Jürgen Domian: „Indem man schweigt, treibt man der AfD die Leute in die Arme“

Interview über sein TV-Comeback mit „Domian live“ und politische Korrektheit

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 07.11.2019, 09:00 Uhr

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Jürgen Domian – Bild: WDR/Klaus Görgen
Jürgen Domian

Fast drei Jahre nach dem Ende seiner nächtlichen Telefontalkshow kehrt Jürgen Domian zurück ins Fernsehen. Vorerst vier Mal wird „Domian live“ im WDR zu sehen sein, vom 8. bis 29. November immer freitags von 23:30 Uhr bis 0:30 Uhr im Anschluss an den „Kölner Treff“. Die größte Veränderung: Domian sieht künftig seine Gesprächspartner. Anstatt mit Anrufern per Telefon zu sprechen, wird sich Domian von Angesicht zu Angesicht mit mehreren Gästen pro Sendung unterhalten.

Alle Gesprächsteilnehmer melden sich aus freien Stücken und können dies unter der Telefonnummer 0800 220 8899 oder per Mail an domian@wdr.de tun. Zudem wird im Gegensatz zu früher nicht mehr aus einem kleinen Radiostudio gesendet, sondern direkt aus der WDR-Kantine an der Glasfront. Es wird auch Live-Publikum geben. Rund 100 Zuschauer sollen in der Sendung Platz nehmen. Produziert wird das neue Format von Unique Media Entertainment (Wolfgang Link) im Auftrag des WDR, die Redaktion hat Elke Thommessen. fernsehserien.de-Redakteur Glenn Riedmeier sprach mit Jürgen Domian ausführlich über das Konzept der neuen Sendung und erfuhr, inwiefern sich der frühere Nighttalk im Verlauf der Jahre verändert hat. Domian erläutert außerdem, inwiefern er seine Arbeit vermisst hat, weshalb ihn politische Korrektheit wahnsinnig macht und wie er die aktuelle gesellschaftspolitische Lage betrachtet.

fernsehserien.de: Lieber Herr Domian, wie kam es eigentlich, dass Sie regelmäßig mit Ihrem Nachnamen Domian angesprochen werden, wie mit einem Vornamen?

Jürgen Domian: Das war schon lange vor der Sendung der Fall. Auf dem Gymnasium, auf dem ich mit Hella von Sinnen war, hat mich etwa die Hälfte mit Jürgen angeredet und die andere Hälfte mit Domian. Und das ist dann einfach so geblieben, was auch völlig okay ist, da ich den Namen Jürgen nicht so schön finde (lacht).

Jürgen Domian als Nighttalker WDR/​Ludolf Dahmen

Sie haben von 1995 bis 2016 fünf Mal die Woche den Nighttalk „Domian“ präsentiert – eine wirklich sehr lange Zeit. Wie hat sich die Sendung Ihrer Ansicht nach im Verlauf der Jahre verändert?

Jürgen Domian: Wir haben festgestellt, dass das Thema Sexualität in den letzten Jahren weniger und auch anders vorkam. Das hat maßgeblich mit dem Internet zu tun. Als wir angefangen haben, gab es viele Dinge, die bis dato nicht öffentlich diskutiert wurden und von denen auch ich zuvor noch nie etwas gehört hatte. In unserer Sendung wurde zum Beispiel das erste Mal im Fernsehen über Objektsexualität gesprochen. Heutzutage hat man hingegen fast alles schon einmal gehört und man findet jede Schweinerei im Internet. Das hatte Auswirkungen auf die Themen der Anrufer in unserer Sendung. Es ging in den letzten Jahren viel mehr um das allzu Menschliche, also Trauer, Liebe, Beziehungen, Tod.

Was denken Sie, wären häufige Themen in den vergangenen drei Jahren gewesen, als Sie nicht mehr auf Sendung gewesen sind?

Jürgen Domian: Ich glaube, es wären die großen polarisierenden, politischen Themen mehr zur Sprache gekommen, wie Flüchtlinge, Trump oder AfD. Ich habe mir angesichts dieser Ereignisse in den letzten Jahren öfter gedacht: „Jetzt müsste man eigentlich eine Sendung machen.“ Aber ansonsten denke ich, dass die Themen über persönliche Sorgen und Probleme gleich geblieben wären.

Sind Sie verwundert darüber, dass der WDR beziehungsweise 1LIVE keinen Versuch gestartet hat, einen Nachfolger als Nighttalker zu engagieren?

Jürgen Domian: Das sind Entscheidungen der Programmdirektoren. Persönlich finde ich, dass so eine Sendung immer funktioniert. Die Leute wollen sowohl sprechen als auch zuhören.

Jürgen Domian WDR/​Melanie Grande

Die Tendenz geht leider eher in die andere Richtung. Kürzlich beendete die ARD schließlich auch die „LateLine“ endgültig. Das Angebot an Call-in-Sendungen schrumpft immer weiter.

Jürgen Domian: Das finde ich wirklich schade. In Amerika gibt es echte Koryphäen auf diesem Gebiet, die das noch länger als ich machen, 30 Jahre oder so.

In den vergangenen Jahren hat man Sie nur äußerst selten als Gast in anderen Sendungen gesehen. Haben Sie sich bewusst zurückgezogen?

Jürgen Domian: Teilweise. Nach dem Ende meiner Sendung war ich zunächst mit 1LIVE auf einer großen Talk-Tournee. Dann habe ich ein Buch geschrieben und ging wieder auf Tour. Danach allerdings folgte eine Sabbatzeit, in der ich gar nichts in der Öffentlichkeit gemacht habe. Das war eine bewusste Entscheidung.

Jetzt sind Sie endlich wieder da. Ab dem 8. November sind Sie vorerst vier Wochen lang freitags um 23:30 Uhr im WDR Fernsehen mit „Domian live“ auf Sendung. Haben Sie Ihre Arbeit vermisst?

Jürgen Domian: Ich habe keine Sekunde der Nachtarbeit nachgeweint. Aber ich habe gemerkt, dass mir das Talken fehlt. Insbesondere die intensiven Gespräche mit unterschiedlichsten Menschen. Wo hat man das sonst?

Der größte Unterschied zu früher ist: Sie sprechen nicht mit den Leuten am Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht.

Jürgen Domian: Richtig, und für mich ist es das sehr attraktiv, weil ich nach ungefähr 22.000 Telefon-Interviews meine Gäste endlich sehen kann (lacht)! Ansonsten ist es wie früher: Ich kenne im Vorfeld weder die Gäste noch die Themen, die sie nacheinander mitbringen. Die Gäste werden nicht recherchiert, sondern melden sich bei uns, wenn sie gerne mit mir sprechen möchten. „Domian live“ ist eine behutsame Weiterentwicklung der Nachtsendung. Es soll über alles gesprochen werden können, ohne Tabus.

WDR

Es ist ja schon ein Unterschied, ob man sich anonym am Telefon meldet oder von einer Fernsehkamera gezeigt wird. Gehen denn Menschen mit vielleicht hochdramatischen Themen auch vor die Kamera?

Jürgen Domian: Ich glaube, dass 85 Prozent der Leute, die sich in der Nacht geäußert haben, auch vor eine Kamera gehen. Diese Erfahrung haben wir schon vor rund 20 Jahren gemacht, als es mal eine „Domian“-Spezialsendung live am Rudolfplatz in Köln gab, bei der man nicht anrufen, sondern vorbeikommen konnte. Das Experiment ist mir in sehr positiver Erinnerung geblieben und das Konzept haben wir nie aus den Augen verloren. Ich freue mich, dass wir es jetzt umsetzen können. Und das sogar live.

Und es kann wirklich über alles gesprochen werden?

Jürgen Domian: Wir schränken den Leitsatz „mit allen über alles reden“ an einer einzigen Stelle ein. Wir werden keinen Gast der Gefahr aussetzen, dass am nächsten Tag die Leute über ihn herfallen. Beispiel: In meinem Night-Talk habe ich mehrfach mit pädophil veranlagten Männern geredet, die sich selbstkritisch gesehen haben und an ihrer Veranlagung litten. Das würde ich im Fernsehen nicht tun. Denn ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn so ein Mann anderntags durch Köln oder Essen spaziert und erkannt wird. Da setzt unsere Verantwortung ein, dass wir die Menschen vor sich selbst schützen.

Ist es ausgeschlossen, dass es in Ihrer neuen Sendung auch – wie früher – Telefongespräche geben wird?

Jürgen Domian: Nein, ausgeschlossen ist das überhaupt nicht. Wenn etwas ganz aktuell passiert, kann man auch das mal als mögliche zusätzliche Variante machen. Die Sendung ist generell eine Experimentierfläche, in der wir alles Mögliche ausprobieren wollen, zum Beispiel könnten auch Gesprächsteilnehmer via Skype oder FaceTime zugeschaltet werden. Alle wollen immer, dass man experimentiert in den Medien – wir machen’s!

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