Collien Ulmen-Fernandes über VIVA: „Wir sind ohne inhaltliches Briefing in stundenlange Live-Sendungen gegangen!“

Interview über Erfolgsrezept, Schattenseiten und Niedergang des Musiksenders

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 30.11.2023, 14:30 Uhr

Die ehemaligen VIVA-Moderatoren (v. l.) Nilz Bokelberg, Collien Ulmen-Fernandes und Markus Kavka ARD Kultur/​Florida Factual

fernsehserien.de: VIVA gilt vor allem in der Nachbetrachtung als regelrechte Ausbildungsstätte für Nachwuchs. Zahlreiche prominente Gesichter, die damals bei VIVA anfingen, haben Karriere gemacht und sind bis heute erfolgreich im Schauspiel oder in der Moderation tätig – wie beispielsweise auch du. Was war das Geheimrezept von VIVA, dass es bei vielen so gut geklappt hat?

Collien Ulmen-Fernandes: Die Authentizität und die Nahbarkeit. Christian [Ulmen] beschreibt das so: Wenn ein VIVA-Moderator zu einem Dreh mit einer Band gefahren ist, sagte er: Boah, ich interviewe gleich Band XY! Ich habe ganz schlecht geschlafen, weil ich so aufgeregt bin, weil ich dieses und jenes Lied von denen mag! Ein MTV-Moderator hat sich dagegen einfach cool hingesetzt und gesagt: Hey Aerosmith, nice to meet you. Wir bei VIVA haben in unser Seelenleben blicken lassen. Die Leute vor dem Fernseher hatten das Gefühl, dass da nicht einfach eine Moderatorin sitzt, die nur einen Text vorliest.

Wir sind ohne inhaltliches Briefing in stundenlange Live-Sendungen gegangen! Heute treffe ich oft Leute, die zu mir sagen: Ich bin mit dir aufgewachsen und ich hatte das Gefühl, dass du meine Freundin warst. Die Zuschauer haben uns wirklich gut kennengelernt und wir waren dadurch nah an ihnen dran. Genau das hat VIVA ausgemacht. Deshalb haben sie uns auch geschrieben, wenn sie Liebeskummer hatten und wir haben ihnen in den täglichen Live-Sendungen Ratschläge gegeben. Wir waren keine Moderatorinnen und Moderatoren, wir waren, wie Heike Makatsch es in ihrer ersten Moderation versprochen hat, Freunde.

Genau so habe ich es auch vor dem Fernseher empfunden. Was glaubst du, weshalb VIVA auch heute noch bei vielen Menschen solche Emotionen auslöst?

Collien Ulmen-Fernandes: VIVA ist einfach ein sehr wichtiges Stück Popkultur. Durch Christian bekomme ich nun auch mit, was VIVA auf der MTV-Seite ausgelöst hat. Denn VIVA war einfach erfolgreich und damit hat zuvor keiner gerechnet. Am Anfang hat niemand VIVA ernst genommen und auf einmal hat VIVA MTV massiv unter Druck gesetzt. Ein früherer MTV-Mitarbeiter hat mir neulich erzählt: Immer wenn VIVA bessere Quoten hatte, wurde bei MTV öfter „Oops! … I Did It Again“ von Britney Spears gespielt [lacht]!

Herrschten denn damals wirklich derart paradiesische Zustände oder gab es schon auch einen gewissen Erfolgsdruck oder Vorgaben, wie ihr euch vor der Kamera verhalten sollt?

Collien Ulmen-Fernandes: Anfangs zu Kölner Zeiten nicht. Es gab früher auch keine Quotenmessung und deshalb auch keinen Quotendruck. Mit dem Börsengang, der Quotenmessung und der Übernahme durch Viacom hat sich allerdings sehr viel verändert. Es wurde zum Beispiel die Marktforschung eingeführt. Einmal im Jahr mussten alle Moderatorinnen und Moderatoren zum Marktforschungsgespräch – und das ist das Brutalste, was man machen kann! Man sitzt da und muss sich zwei Stunden lang anhören, wie die Leute einen finden. Da bekam man Dinge zu hören wie: 90 Prozent mögen deine Frisur nicht. Es wurde mir ein Ausschnitt von einer „Comet“-Verleihung vorgespielt, die ich mit Sido moderiert habe. Da hieß es: Die Über-17-Jährigen fanden das cool, was du da gesagt hast, aber die Unter-17-Jährigen fanden dich zickig. Auf einmal musste man sich mit sich selbst auseinandersetzen, was man vorher nicht gemacht hat – denn das Nicht-drüber-Nachdenken hat VIVA ausgemacht. Man wusste, dass einige ihren Job verlieren werden, weshalb wir immer zitternd in diese Gespräche gegangen sind. Nach der Marktforschung sind von zehn Leuten nur noch sechs übriggeblieben. Das hat den Spirit kaputtgemacht. Am Ende wurde VIVA wirklich totanalysiert.

Das hört sich wirklich brutal an. Aber man hat es als Zuschauer gemerkt. Gegen Ende der 2000er verlor der Sender seinen Glanz und es war nicht mehr das VIVA von früher. Diese unschöne Entwicklung hat man vermutlich intern noch viel deutlicher gespürt.

Collien Ulmen-Fernandes: Ja, absolut. Man war nicht mehr so frei und es gab einige Faktoren, die da mit reingespielt haben. Es waren neue Leute da, die sich weniger getraut haben. VIVA wurde insgesamt braver und dadurch herkömmlich. Es wurde extrem reingeredet und ich durfte ganz viel nicht mehr sagen, weshalb ich regelmäßig mit den Leuten aneinandergeraten bin.

Instagram/​Collien Ulmen-Fernandes

Wie war das, wenn ihr Popstars zu Gast hattet? Gab es eine Vorgabe, dass ihr keine kritischen Fragen stellen und den Gästen generell wohlgesonnen sein sollt?

Collien Ulmen-Fernandes: Das kam immer darauf an, wer die Sendung gemacht hat. Es gab Leute, die einem die langweiligsten Interviewfragen aufgeschrieben haben, die ich je gelesen habe. Wir wurden dann gezwungen, diese Fragen auch genau so zu stellen. Das waren Kinderfragen wie Was ist eure Lieblingsfarbe? oder Do you like the sun?, bei denen man sich gedacht hat: Das kann doch nicht euer Ernst sein, Leute!

Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Gäste selbst auch veräppelt vorgekommen sind.

Collien Ulmen-Fernandes: Es gab eine Situation, die mir wirklich peinlich war. Es waren die Schauspieler aus dem Film „Männerherzen“ zu Gast und eine Aktion bestand darin, dass ich sie bitten sollte, ihre Schuhe untereinander zu tauschen. Ich habe mich so dafür geschämt und mit der Redaktion heftig darüber diskutiert. In den Foren wurde damals geschrieben: Was hat denn die Collien für bescheuerte Ideen?, denn natürlich fällt so etwas dann auf uns Moderatorinnen zurück, obwohl ich das selbst daneben fand, aber dazu gezwungen wurde.

Verständlicherweise. Aber es gab bestimmt auch Gäste, die dir unangenehm waren. Wer hat sich beispielsweise daneben benommen?

Collien Ulmen-Fernandes: Usher war etwas schwierig. Die Redaktion hat vor der Sendung mit ihm vereinbart, dass er das Intro tanzt. Er hatte eine Choreographie einstudiert. Dann sagte ich ihn in der Live-Sendung an. Die Lichteffekte donnerten und er stand einfach nur da. Ich stand daneben und wusste überhaupt nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Meine Fragen hat er dann auch nur sehr einsilbig beantwortet. Er hatte überhaupt keinen Bock und da denke ich mir: Du musst deine Musik ja nicht bei uns promoten, bleib doch einfach im Bett. Und auch dieser Christian Ulmen war sehr schwierig, der bei mir eine DVD promoten wollte. Er kam mit einem Kaugummi im Mund rein und hat mir den erst mal auf meine Moderationskarte geklebt. Das war auch so ein Moment, bei dem ich mir dachte: interessant [lacht].

Und wer waren die angenehmsten Gäste?

Collien Ulmen-Fernandes: Wen ich immer gern getroffen habe, weil die einfach supernett waren, sind Silbermond. Absolut freundliche Leute, die immer schöne Anekdoten erzählt haben. Es gibt Interviews, bei denen man ahnt, dass sie anstrengend werden. Bei Silbermond wusste man: Auch wenn man schlecht geschlafen hat oder einen Scheißtag hatte, bekommt man trotzdem ein gutes Interview.

Auf der nächsten Seite spricht Collien Ulmen-Fernandes über die jährlichen „Comet“-Verleihungen, nervige Klingeltonwerbung und darüber, ob Musik im Fernsehen heute noch funktionieren kann.

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