„Roar“: Fotos verspeisen mit Nicole Kidman – Review

Feministische Anthologieserie nach Kurzgeschichten von Cecilia Ahern kommt etwas zaghaft ins Brüllen

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 15.04.2022, 14:00 Uhr

Mutter (Judy Davis) und Tochter (Nicole Kidman) auf einem Roadtrip durch Australien. – Bild: Apple TV+
Mutter (Judy Davis) und Tochter (Nicole Kidman) auf einem Roadtrip durch Australien.

Im Buchhandel gelten Kurzgeschichten im Vergleich zu Romanen als deutlich schwerer verkäuflich, und auch von „Roar“ (biederer deutscher Titel: „Frauen, die ihre Stimme erheben“), dem 2018 erschienenen Kurzgeschichtenband der irischen Bestseller-Autorin Cecelia Ahern, ist nicht überliefert, dass er den Publikumserfolg ihrer Romane übertroffen hätte. Im Seriengeschäft verhält es sich ähnlich: Anthologieserien, die Episode für Episode eine neue Story erzählen, wirken im Streamingzeitalter fast schon wie aus der Zeit gefallen, zumal der Wunsch der Anbieter, ein Publikum möglichst über mehrere Staffeln in den Sog einer fortlaufenden Handlung zu ziehen, naturgemäß groß ist. „Roar“ gibt’s nun trotzdem auch als Serie – halbstündige Kurzgeschichten, hochkarätig besetzt mit Stars wie Nicole Kidman und Alison Brie. Das Ergebnis fällt erwartbar uneben aus.

Cecilia Ahern hat mit Fernsehserien eher enttäuschende Erfahrungen gemacht. Die von ihr bereits mit Mitte zwanzig geschriebene Comedy „Samantha Who?“ mit Christina Applegate wurde 2009 von ABC nach anfänglichem Erfolg und schnellem Niedergang nach zwei Staffeln gecancelt. Seither hatte sich die heute 40-jährige Bestsellerautorin auf das Schreiben gut bekömmlicher Literatur beschränkt, zwei erfolgreiche Verfilmungen ihrer Romane („P.S. Ich liebe dich“ und „Love, Rosie“) bewiesen dabei die grundsätzliche Tauglichkeit ihrer Stoffe fürs audiovisuelle Format.

„Roar“ versucht nun, diesen Erfolg im Kleinen zu wiederholen. Die beiden „GLOW“-Erfinderinnen Liz Flahive und Carly Mensch nahmen sich acht der 30 kurzen Storys aus Aherns Band über die Vielfalt weiblicher Erfahrungswelten für die erste Staffel vor. Als Produzentin konnten sie Ahern höchstselbst ebenso gewinnen wie Nicole Kidman, die sich zudem nicht die Gelegenheit nehmen ließ, in einer der Episoden selbst vor die Kamera zu treten.

Bei Apple TV+ hat man überdies ganz gute Erfahrungen mit Anthologieserien gemacht, mit Steven Spielbergs „Unglaubliche Geschichten“-Neuauflage etwa oder der zu Recht vielgelobten Immigrations-Comedy „Little America“. Und überhaupt: Ein Hit wie „Black Mirror“ hat doch längst bewiesen, dass das alte „Twilight Zone“-Prinzip mit den episodenweise wechselnden Plots und Figuren auch heute noch funktionieren kann – wenn denn die einzelnen Plots so stark sind, dass man auch beim nächsten Mal wieder einschalten und sich auf ganz neue Figuren einlassen will.

Aufs Podest gehoben: Das Model (Betty Gilpin) und der Millionär (Daniel Dae Kim) Apple TV+

Das freilich ist die Crux dabei – egal ob von unheimlichen Science-Fiction-Phänomenen erzählt wird oder, wie hier, von den mal kuriosen, mal schockierenden, mal tröstlichen Erfahrungen, die Frauen heutzutage machen. Schon bei Aherns „Roar“-Band konnte beobachtet werden, dass von den 30 Storys nicht alle das Niveau der besseren hielten, und auch bei den für die Serie ausgewählten acht werden Höhen und Tiefen nicht ausbleiben. Dies lassen jedenfalls schon die ersten drei, sehr unterschiedlich gelungenen Folgen vermuten. Wie die Kurzgeschichten auch sind sämtliche Folgen mit Titeln überschrieben, die jeweils mit The woman who … beginnen und dann sehr buchstäblich das beschreiben, was in der jeweiligen Episode abläuft: „The woman who disappeared“ (Die Frau, die verschwand), „The woman who ate photographs“ (Die Frau, die Fotos aß), „The woman who was kept on a shelf“ (Die Frau, die auf einem Regal gehalten wurde).

Doch während die „woman“ in den Erzählungen des Bandes immer nur „woman“ genannt wird und sich auf diese Weise, trotz der komplett unterschiedlichen Szenarien, eine Form von Allgemeingültigkeit einstellen kann und die einzelnen Protagonistinnen am Ende sozusagen eine vorläufige Summe zeitgenössischer weiblicher Erfahrungen ergeben, präsentieren sich die Frauen der Serie viel individueller, schon weil sie prominent besetzt sind mit Stars wie Alison Brie („Glow“, „Community“) und Cynthia Erivo (oscarnominiert für „Harriet“), aufstrebenden Jungdarstellerinnen wie Kara Hayward („Moonrise Kingdom“) und Fivel Stewart („Atypical“) oder der immer gern gesehenen Merritt Wever. Jede Episode wurde von Frauen geschrieben und inszeniert, und mit dem ständigen Wechsel des Kreativteams ändert sich natürlich auch von Folge zu Folge die Herangehensweise und der Tonfall, auch wenn eine gewisse schwarzhumorige oder sogar märchenhaft-surreale Grundierung den Episoden in ihrer feministischen Stoßrichtung gemein zu sein scheint.

Zum Verschwinden gebracht: Autorin Wanda (Issa Rae) unter weißen Filmproduzenten Apple TV+

Was sich leider nicht verändert, ist die etwas platte Buchstäblichkeit der Geschichten, die meist eine zentrale Metapher beim Wort nehmen. Die Pointe ist dabei meist früh zu erahnen, ohne dass sich gegen Ende dann noch Entscheidendes entwickeln würde; die Folgen dröseln leider etwas uninspiriert aus.

Beispielhaft dafür wäre die dritte, von der arrivierten Spielfilmregisseurin So Yong Kim („For Ellen“) inszenierte Episode zu nennen, die von einem gefeierten Model erzählt („Glow“-Star Betty Gilpin), das von einem steinreichen Mann (Daniel Dae Kim aus „Lost“) sozusagen vom Laufsteg weg in eine feudale Villa verschleppt wird, wo es nach der Hochzeit tageins, tagaus auf einem steinernen Regalbrett, einer Art Präsentier-Gesims, sitzen muss, um von dem an dem Schreibtisch arbeitenden Mann fortan bestaunt werden zu können – bis der Mann irgendwann das Interesse an ihr verliert und die Frau zu Dixieland-Jazz befreit durch die Straßen tanzt. Die zentrale Metapher der trophy bride, also einer vom erfolgreichen Mann wie eine Trophäe eingesammelten Frau, muss dann auch im Dialog noch explizit erläutert werden – dieses etwas ungelenke Nachhausehämmern der gewünschten Botschaft ist den anderen Episoden leider auch nicht fremd.

Besser, wenn auch nicht perfekt, sind die beiden ersten Folgen, die aus verschiedenen Blickwinkeln vom Verschwinden erzählen. In der Auftaktepisode spielt Issa Rae („Insecure“) die frisch gebackene Erfolgsschriftstellerin Wanda Shepard, deren autobiografisches Buch über ihre Erfahrungen als Schwarze Frau Begehrlichkeiten in Hollywood ausgelöst hat: Die New Yorkerin wird nach Los Angeles eingeflogen, von einem hippen Studio-Assistenten (Griffin Matthews aus „The Flight Attendant“) abgeholt und in einer Nobelvilla untergebracht. Doch während sie eben noch zu Marvin Gaye im Infinity Pool tanzt, wird der nächste Tag zum Horrortrip, als Wanda erkennen muss, dass nicht nur die Gesichtserkennungssoftware des Filmstudios sie nicht ins System aufnehmen will, sondern auch die ausnahmslos weiße Produzentenriege sie immer weniger wahrnimmt, sie erst nicht mehr gehört, schließlich auch nicht mehr gesehen wird. Sie verschwindet buchstäblich aus der Wahrnehmung der anderen, während sie gleichzeitig erleben muss, wie aus ihrem Roman eine Virtual-Reality-Experience gemacht werden soll, mittels derer ein weißes Publikum sich in die „schwarze Erfahrung“ hineinversetzen kann. Wie Wanda diese Aneignung ihrer persönlichen Erfahrungen als gewaltsamen, rassistischen Raubzug erlebt, vermittelt sich auf erschreckende Weise. Doch dieser zeitgemäß gruselige Dreh, den die Originalgeschichte hier erfährt (mit Aherns Story hat die Episode nur noch in Teilen zu tun), mündet am Ende, wie die dritte Episode, in eine etwas diffuse Tröstlichkeit. Der Horror bleibt so etwas wässrig.

Metapher für die Datingwelt: Merritt Wever verknallt sich in eine Ente. Apple TV+

Geradezu rührend ist die im östlichen Australien angesiedelte zweite Folge, in der Mitproduzentin Kidman auftritt. Sie spielt, in Sportklamotten und mit starkem australischem Akzent, eine Friseurin mit kecker Kurzhaarfrisur, die sich mit ihrem Mann („The Mentalist“ Simon Baker) auf den Einzug ihrer demenzkranken Mutter vorbereitet – sie soll in das Zimmer ihres aufs College gehenden Sohnes ziehen. Im Zentrum der Episode steht jedoch ein Roadtrip, auf den sich Mutter und Tochter spontan begeben und auf dem die Tochter herausfindet, dass Erinnerungen in ihr sozusagen in Virtual-Reality-Form aufpoppen, wenn sie die Fotos aus einem mitgenommenen Familienfotoalbum buchstäblich verspeist. Sie wird geradezu süchtig danach, stopft die Bilder in sich hinein, als müsse sie all das Gewesene schnell noch einmal intensiv wiedererleben, während es der erkrankten Mutter zunehmend abhandenkommt. Die Episode hat starke Momente und funktioniert vor allem als Renommier-Duett zweier toller Darstellerinnen (neben der für „Being the Ricardos“ soeben zum fünften Mal oscarnominierten Kidman ist als ihre Mutter Judy Davis zu sehen – die übrigens nur zwölf Jahre älter ist), kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Arbeitermilieu, aus dem die Protagonisten hier stammen soll, Behauptung bleibt. Davis’ sarkastisch frotzelnde Mutter zum Beispiel scheint eher einer Komödie über Großstadtintellektuelle entsprungen zu sein, und auch die Message wird wieder gleich mehrfach unterstrichen. INXS’ Hit „Disappear“, hier als Kommentar auf das Vergessen und Verschwinden eingesetzt, lauscht Kidman erst im Auto, am Ende wird er in der Streicherversion der derzeit sehr beliebten Pop-Fiedler vom Vitamin String Quartet („Bridgerton“) noch über den Abspann gekleistert. Subtilität ist die Sache dieser Serie offensichtlich nicht.

Inwieweit die weiteren Episoden diesen etwas gemischten Ersteindruck bestätigen oder widerlegen, kann auf Apple TV+ fortan überprüft werden. Die erlesene Darstellerinnenschar rechtfertigt fraglos das Einschalten, und Serien, in denen aus der Perspektive komplexer Frauenfiguren auf heutige Lebenswelten geblickt wird, kann es im Prinzip nicht genug geben – zu viel gibt es da noch aufzuholen. Dennoch kommen diese Kurzfilme – denn als solche könnte man die Episoden durchaus bezeichnen – etwas zu zaghaft daher, ihren so skurrilen Prämissen zum Trotz. Der roar, das Brüllen, der Aufschrei des englischen Titels wird zwar in einem schön surrealen Vorspannbild, in dem ein weiblicher Mund aus einer wie ein Gefängnis wirkenden Rosenblüte herausschreit, aufgenommen, aber nicht wirklich in vergleichbar aufrüttelnde Episoden übersetzt.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei Episoden von „Roar“.

Meine Wertung: 3/​5

Alle acht Episoden der Anthologie-Serie „Roar“ stehen ab sofort bei Apple TV+ zum Abruf bereit.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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