„3 Body Problem“: Netflix gelingt faszinierende Adaption von Liu Cixins SF-Bestseller – Review

Ex-„Game of Thrones“-Macher erzählen von Physik, Aliens und virtuellen Welten

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 20.03.2024, 17:30 Uhr

„3 Body Problem“ – Bild: Netflix
„3 Body Problem“

Es beginnt ebenso eindringlich wie genreuntypisch, im China des Jahres 1966, zu Beginn der Kulturrevolution, eines der dunkelsten Kapitel in der chinesischen Geschichte. Kultur, Wissenschaft und alles, was in den Augen der Partei dem Kommunismus zuwiderlaufe, wurde zum Ziel eines gewalttätigen Furors. Die junge Ye Wenjie (Zine Tseng) wird Zeugin der öffentlichen Anklage ihres Vaters, eines Uniprofessors für Physik, der sich weigert, sich von der Relativitätstheorie zu distanzieren. Nachdem selbst seine Ehefrau, ebenfalls Physikerin, dies getan hat, schlägt eine junge Funktionärin den Mann mit einem Gürtel so heftig, dass er schließlich auf der errichteten Bühne stirbt. Seine Tochter, die beruflich in die Fußstapfen der Eltern getreten war, landet in einem mongolischen Arbeitslager.

Ein ungewöhnlicher Auftakt für eine Science-Fiction-Serie. Der chinesische Bestsellerautor Liu Cixin spannt in seiner Trisolaris-Trilogie – beginnend mit dem Roman „Die drei Sonnen“, auf Deutsch im Heyne Verlag erschienen – einen weiten Bogen vom China der 1960er Jahre bis zur Ankunft einer außerirdischen Zivilisation 400 Jahre in unserer Zukunft. Die früheren „Game of Thrones“-Showrunner David Benioff und D.B. Weiss haben den Stoff gemeinsam mit Alexander Woo für Netflix adaptiert, die erste Staffel besteht aus acht etwa einstündigen Episoden. Darin vermischen sie Thriller- und Mysteryelemente mit einer komplexen SF-Erzählung mit physiktheoretischen Grundlagen, philosophischen Fragen und einer Virtual-Reality-Welt zu einem fesselnden Ganzen.

Nach Auftaktsequenz und Vorspann springt die Handlung zunächst in unsere Gegenwart des Jahres 2024, in der allerdings zunehmend merkwürdige Dinge vorgehen. So begehen überall auf der Welt führende Physiker (anscheinend) Suizid, nachdem Experimente in Teilchenbeschleunigern Ergebnisse gezeigt haben, die physikalisch unmöglich sein müssten. Eines Abends stürzt sich auch in einem Londoner Forschungszentrum eine Wissenschaftlerin völlig unerwartet in eine Art Abklingbecken, nachdem sie kurz zuvor ein seltsames Gespräch mit ihrem Kollegen Saul Durand (Jovan Adepo) geführt hat. Wie schon in den anderen Todesfällen ermittelt der Agent Da Shi (Benedict Wong), der bereits bei Scotland Yard, dem MI5 und anderen Polizei- und Geheimdienstbehörden rausgeflogen ist. Seinen aktuellen Chef verkörpert „Game of Thrones“-Veteran Liam Cunningham.

Traut ihrem Verstand und ihrer Wahrnehmung nicht mehr: Augustina „Auggie“ Salazar (Eiza González) sieht seltsame Zeichen. Netflix

Während Saul und seine vier früheren StudienkollegInnen – und immer noch besten FreundInnen – noch versuchen, den schockierenden Suizid zu verarbeiten, sieht eine von ihnen, Auggie Salazar (Eiza Gonzalez), plötzlich ständig einen Countdown vor ihrem normalen Blickfeld. Von der Mutter (Rosalind Chao, der Keiko O’Brien aus „Star Trek – Deep Space Nine“) der Verstorbenen bekommt eine andere Kommilitonin, Jin Cheng (Jess Hong), eine merkwürdige Maske geschenkt. Es soll ein Videospiel sein, dass die Tochter vor ihrem Tod viel gespielt habe.

Das goldene Gerät hat weder Bedienelemente noch eine erkennbare Stromversorgung, versetzt die Spielenden aber in eine von der Realität nicht zu unterscheidende VR-Welt – eine Technologie, die unserer um Generationen voraus ist. In dem Spiel soll Jin eine ans alte China erinnernde Zivilisation vor dem Untergang retten. Das misslingt zwar ebenso wie spätere Versuche mit anderen Zivilisationen. Trotzdem schafft es Jin – zuerst alleine, später im Partnermodus mit ihrem nerdigen Kumpel Jack Rooney (John Bradley, der Sam aus „GoT“) -, das wahre Ziel des Spiels herauszufinden.

Parallel erzählen die ersten beiden Episoden die Geschichte der jungen Ye Wenjie weiter. Aufgrund ihrer Ausbildung wird sie in ein geheimes Forschungszentrum der kommunistischen Regierung versetzt. Dort wird mit Hilfe einer riesigen Parabolantenne versucht, eine Nachricht an außerirdische Zivilisationen zu schicken. Zwar wird Wenjies Vorschlag, wie man die Sendeleistung verstärken könnte, aus ideologischen Gründen abgelehnt, dennoch gelingt es ihr schließlich, den Erstkontakt herzustellen – ein Ereignis mit dramatischen Folgen für die Zukunft der Menschheit.

Stellt den Erstkontakt her: die bei den Kommunisten in Ungnade gefallene Ye Wenjie (Zine Tseng) Netflix

Es ist nicht einfach, die komplexe Handlung zusammenzufassen (zumal, wenn man zu krasse Spoiler vermeiden möchte). „3 Body Problem“ ist sicher keine Serie zum Nebenbeischauen. Da werden immer wieder physikalische Theorien diskutiert, dass man sich fast schon in einem Grundseminar an der Uni fühlt. Das geht jedoch nie auf Kosten der Spannung. Es gelingt den Autoren um Benioff, Weiss und Woo und der Inszenierung von Derek Tsang und Andrew Stanton zumindest in den ersten drei Folgen, das Tempo durchgehend hoch zu halten und eine bedrohlich-faszinierende Grundstimmung zu schaffen. Dabei wechselt die Handlung immer wieder zwischen den Ermittlungen und unerklärlichen Vorgängen in der Gegenwart, der Vorgeschichte in den 60ern und 70ern und den beeindruckend in Szene gesetzten virtuellen Welten des Videospiels. Letztere sind mal ans kaiserliche China, dann wieder ans mittelalterliche England angelehnt und erinnern in ihrer virtuos entworfenen Künstlichkeit nach verschiedenen historisch-kulturellen Vorbildern an die Traumsequenzen in Zack Snyders „Sucker Punch“.

Diese eklektischen virtuellen Welten passen gut zu dem ohnehin schon kulturell hybriden Ansatz der Serie. Einerseits spielt die Gegenwartshandlung überwiegend in London, andererseits haben mehrere Haupt- und Nebenfiguren einen chinesischen Hintergrund. Während hier – und in der Spielewelt – aber durchgehend Englisch gesprochen wird, ist auf der anderen Zeitebene das Hochchinesische dominant. Um das westliche Publikum nicht zu vergrätzen, wurden gegenüber der Romanvorlage neue Weiße Figuren hinzuerfunden, zugleich dürfte sich die Serie auch gut in Asien vermarkten lassen. Solange die Schauspielleistungen so überzeugend ausfallen wie hier, ist gegen einen solchen Multikulti-Ansatz wenig einzuwenden.

Beobachten den Himmel über London: Physikerin Jin Cheng (Jess Hong) und Geheimdienstchef Thomas Wade (Liam Cunningham) Netflix

Im Vergleich zur HBO-Erfolgsserie von Benioff und Weiss um Königshäuser, Drachen und ewige Winter hat ihr neues „Kind“ wesentlich größeren Bezug zu unserer Gegenwart. Ideologie, Technologie, der Wettkampf zwischen China und dem Westen um die globale Führungsrolle und die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, für das Fortbestehen der Menschheit in einer Zukunft zu kämpfen, in der ohnehin man selbst, alle, die man kennt, und die eigenen Kinder und Enkel nicht mehr leben werden – alles (wieder) hochaktuelle Themen.

Und wer hat sich nicht schon einmal die Frage gestellt, wie sich unser aller Leben verändern würde, wenn uns wirklich einmal Aliens entdecken würden? „3 Body Problem“ geht dieser Frage mit beeindruckenden Bildern, flotter Inszenierung und starkem Ensemble nach. Zwar schafft es die Staffel nicht ganz, das hohe Anfangstempo und die aufgebaute Spannung über die gesamte Laufzeit zu halten. Insbesondere im Mittelteil (Episoden 4 und 5) hängt die Staffel etwas durch. Danach steigert sie sich aber wieder und liefert neben existenz- und moralphilosophischen Fragestellungen auch einige emotional berührende Momente, die sich insbesondere um den fünften Studienfreund Will Downing (Alex Sharp) drehen. Hier machen die Autoren trotz einiger Logiklücken bei den anderen Aspekten alles richtig, weil sie verstanden haben, dass bei guter Science Fiction letztlich immer der Mensch im Mittelpunkt steht.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „3 Body Problem“.

Meine Wertung: 4/​5

Die achtteilige erste Staffel ist ab Donnerstag, den 21. März bei Netflix verfügbar.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Das erzeugt schon gut Spannung, und es gibt auch Settings, die mal anders sind. Mein Problem ist eher, ich bekomme einfach keinen Zugang zu den Figuren. Sie wachsen mir nicht ans Herz, das sind einfach nur irgendwelche Leute, die irgendwelche Dinge tun. Ich frage mich, warum ist das so? Die Figuren haben ja durchaus persönliche Probleme, unter denen sie leiden, aber die lassen mich kalt. Vielleicht ist es das: Die Figuren haben kein Ziel, dass sie leidenschaftlich verfolgen, es gibt nichts, was sie unbedingt wollen. Es wiederfahren ihnen nur Dinge und sie müssen darauf reagieren - Wieder was fürs Schreiben gelernt :-)))
    • am

      Nach den Ankündigungen war ich gespannt auf die Serie. Jetzt nach der Sichtung der ersten zwei Folgen muss ich leider vermelden, dass sie für mich eine Enttäuschung ist. Aufwändig gemacht, aber die Stories in den verschiedenen Zeiten zwischen denen hin und her gesprungen wird, sind zäh und letztlich langweilig.
      • am

        Ähem, man spannt einen Bogen und schlägt ihn nicht. ;-) Wenn schon Metaphern, dann bitte richtig.
        • (geb. 1978) am

          Ähm, natürlich gibt es die Redewendung "einen Bogen schlagen" = etwas miteinander verbinden.

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