Casting und Reality-TV: „Sozialporno statt Lebenshilfe“
Medienwissenschaftler übt Kritik an Produzenten
Michael Brandes – 08.10.2010
Mit der Teilnahme an Castingshows und anderen Reality-Formaten versuchen regelmäßig Tausende von Normalbürgern, den Sprung ins Fernsehen (und in die C-Prominenz) zu schaffen. In einem Interview mit der Internetseite „Meedia“ analysiert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die Gründe: „Es geht um Aufmerksamkeit und – im Unterschied zu Andy Warhol – um 15 Sekunden Ruhm, einen bescheidenen Augenblick der großen öffentlichen Präsenz“. Die Vorstellung von Prominenz habe sich stark verändert: „Nicht-Prominente sehen sich heute zunehmend als Noch-nicht-Prominente. Und wenn Sie an solche zumutungsreichen Formate wie das Dschungel-Camp denken, dann findet man dort immer nur sogenannte C-Promis, also Leute, denen kaum mehr Beachtung geschenkt wird. Sie versuchen – oft mit allen Mitteln – wieder ins Rampenlicht zu gelangen“.
Von den TV-Produzenten werden die Kandidaten dabei laut Pörksen in Rollenklischees gedrängt: „Es geht nicht darum, dass sie sich als ein Individuum präsentieren, ihren eigenen Charakter offenbaren; sie sind als Lieferanten von Stereotypen und Klischees gefragt. Schicksale, die womöglich existieren, werden offensiv zurecht geschnitzt. In den Reality-Formaten finden sich in der Regel keine normalen, alltäglichen Beziehungsprobleme, sondern man begegnet dem Gebrüll, dem Geschrei, dem Getrampel.“ Besetzt werden dabei „die immer gleichen Rollen: die Zicke, der Streber, die Naive, der Underdog, die Peinliche, das verkannte Genie. Wer stattfinden will, muss eine dieser Rollen verkörpern und außerdem das eigene Privatleben als Reservoir für rührende oder schockierende Geschichten zur Verfügung stellen.“
Dass viele Doku-Soaps im Mantel von sogenannten „Help“-Formaten daherkommen, die den Zuschauern Lebenshilfe versprechen, betrachtet Pörksen als „leicht absurdes Rechtfertigungsmuster“ der Produzenten: „Sie liefern zum Sozialporno auch gleich die scheinbar aufklärerische Unterzeile und bemänteln die aggressive Dramatisierung privater Schicksale durch ein selbstbewusst geheucheltes Interesse an öffentlich praktizierter Lebenshilfe.“ Das einfache Leben habe im Fernsehen längst keine Chance mehr: „Normalität ist das Kontrastprogramm zur Realität im Reality-TV.“