„The Bear“: Stresstest im Sandwichladen – Review

Ist die Dramaserie mit „Shameless“-Star Jeremy Allen White die aktuell beste Disney-Serie?

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 09.08.2022, 17:51 Uhr

Will, das der Laden läuft: Sternekoch Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) an neuer Wirkungsstätte – Bild: Hulu / Disney+
Will, das der Laden läuft: Sternekoch Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) an neuer Wirkungsstätte

Kücheninferno hautnah: Das Fleisch brät, die Soßen köcheln, irgendwo fällt gerade was aus dem Regal. Stromausfall, Ofen aus, Kunden drängeln, das Finanzamt motzt, Köche und Tellerwäscher quetschen sich an den Herden vorbei, und der Großhändler liefert mal wieder nicht das, was er sollte. Stress pur: So geht es in vielen kleineren und größeren Restaurantküchen zu, und in desorganisierten wie jener, um die es in „The Bear“ geht, noch viel mehr. Bislang hat wohl noch keine Serie den permanenten Druck hinter den gastronomischen Kulissen derart plastisch auf den Bildschirm gebracht wie diese acht sehenswerten Episoden über einen Sternekoch, der nach dem Tod seines Bruders dessen Sandwichladen in Chicago übernimmt. Im Juni startete die Serie unter dem „FX on Hulu“-Label beim US-Streamingdienst Hulu.

Zunächst ein Gebrauchs- und Sicherheitshinweis: Bei „The Bear“ ist auch auf Zuschauerseite Durchhalten vonnöten. Die erste Episode besteht praktisch nur aus Gebrüll und Gedrängel und Menschen, die sich gegenseitig niederträchtige Dinge an den Kopf werfen. Der Stresslevel, den Hauptautor und Co-Regisseur Christopher Storer hier etabliert, kann es in Sachen Überforderung mit dem berüchtigten Adam-Sandler-Juwelenhändlerdrama „Der Schwarze Diamant“ aufnehmen: hektische Schnitte, Tempo-Tempo-Tempo, Dialogfetzen, die ineinander übergehen. Beim Zusehen stellt sich eine elektrisierende Grundnervosität ein, die so ziemlich das Gegenteil dessen bewirkt, was uns sonst das Berieselungsfernsehen und Comfort TV bescheren will.

Nervt das nicht? Oh doch, unbedingt! Aber dranbleiben lohnt sich – und wie! Spätestens ab der zweiten Episode kommt die Serie immer öfter auch zur Ruhe, und obwohl es die acht Folgen (Gesamtlaufzeit: vier Stunden) natürlich gar nicht zulassen, jede Figur aus der Sandwichcafé-Küche detailliert zu beleuchten, sorgen die herausragenden Leistungen der Hauptdarsteller dafür, dass man beim Zuschauen sehr schnell in der Story ankommt und Anteil nimmt am Schicksal der Figuren.

Manager Richie (Ebon Moss-Bachrach) gerät immer wieder mit der ambitionierten Köchin Sydney (Ayo Edebiri) aneinander. Hulu /​ Disney+

Der, der dem zu bändigenden metaphorischen Bären des Serientitels gleich zu Anfang im Traum begegnet, das ist „Carmy“, mit vollem Namen Carmen Berzatto, ein noch halbwegs junger, aber erfahrener Sternekoch, der es in renommierten Küchen weltweit und zuletzt in New York zu Ruhm gebracht hat. Jeremy Allen White, vor allem bekannt als Lip aus „Shameless“, spielt ihn mit müden, traurigen Augen und genau der richtigen Menge an Unergründlichkeit: Was veranlasste ihn, seine Karriere erst einmal dranzugeben und stattdessen den maroden Sandwichladen seiner Eltern, den zuletzt sein älterer Bruder Michael führte, nach dessen Tod zu übernehmen?

Bis zum Schluss der Staffel weiß man das nie so ganz genau; eine Mischung aus Schuldgefühlen und nachgetragenem Stolz scheint dafür ausschlaggebend gewesen zu sein. Michael (in Flashbacks gespielt von Jon Bernthal, „Baby Driver“) hatte Carmy nach einem Zerwürfnis einst verboten, im Laden mitzuarbeiten und seine Ochsentour durch die Restauranthierarchien dadurch erst ausgelöst. Und jetzt, da Carmy es zu etwas gebracht hat und dafür erkennbar hart leiden musste (Joel McHale aus „Community“ taucht in kurzen Rückblenden als psychopathisch-brutaler Chefkoch auf), ist Michael nicht mehr da. Warum genau er starb, darüber wird anfangs nur gemunkelt. Erst in der zweiten Episode wird es offen benannt.

Im „The Original Beef of Chicagoland“, so heißt der heruntergekommene, für die Belegschaft viel zu enge Laden, stößt Michael auf ein Team, das ihn nicht willkommen heißt: Manager Richie (genial enervierend: Ebon Moss-Bachrach aus „Girls“ und „The Punisher“) war Michaels bester Kumpel und hat seinen Job nur aus diesem einen Grund – was auch jeder weiß. Was Richie genau macht in diesem Laden (außer herumzubrüllen und spätpubertäre Scherze zu reißen), das weiß dagegen keiner so genau, und allmählich dringt auch zu ihm durch, wie überflüssig er eigentlich geworden ist. Er, der Probleme immer nur am Rande der Kleinkriminalität zu lösen gewöhnt war, wird nun auf Leute stoßen, die wirklich was auf den Kasten haben und intelligentere Lösungsvorschläge unterbreiten können. Am Herd lässt sich derweil die taffe Tina (Liza Colón-Zayas, „Flug 93“) noch weniger sagen, als der Rest der Mannschaft ohnehin schon. Das Team folgt dem eingespielten (wenn auch suboptimalen) „System“, das Michael dereinst eingeführt hatte.

Hängt zunächst beharrlich am alten System: Tina (Liza Colón-Zayas) Hulu /​ Disney+

Carmy begegnet der Sturheit und dem Starrsinn der Belegschaft mit frischem Wind: Er heuert die talentierte und bestens ausgebildete Sydney als Sous-Chef an, die fortan jede Menge Mühe hat, so etwas wie ein französisches Brigade-Prinzip in den Küchenalltag zu integrieren, dabei Zuständigkeiten neu zu verteilen und die Effizienz zu steigern.

Wenn es eine Schauspielleistung gibt, die aus dem hohen Niveau der Serie noch einmal herausragt, dann ist es die von Ayo Edebiri. Man kennt sie zwar als Schauspielerin (zuletzt etwa im Netflix-Film „Der erste Blick, der letzte Kuss und alles dazwischen“), aber auch als Autorin von Serien wie „What We Do in the Shadows“ oder „Dickinson“. Edebiris Namen sollte man sich also unbedingt merken, nicht nur, weil sie hier eine unfassbar natürlich wirkende Performance hinlegt, die mit staunenswerter Leichtigkeit das ganze Register von Sydneys Emotionen auffächert, von der stillen Verzweiflung, der perplexen Ungläubigkeit über das Chaos, das ihr begegnet, bis hin zu leiser Wut und wachsendem Stolz. Anhand von Sydney, die sich allmorgendlich aus einem Vorort mit der U-Bahn zum Restaurant in der River-North-Gegend bewegt und in der engen Wohnung ihrer Eltern lebt, die frühmorgens aufbricht und erst nachts wieder zurückkehrt, wird auch die soziale Realität außerhalb des Sandwichladen-Mikrokosmos in den Blick genommen.

In den acht Episoden, die überwiegend in den Räumlichkeiten des „Original Beef“ angesiedelt sind, werden darüber hinaus alle möglichen Facetten des dortigen Arbeitsalltags beleuchtet, von den ständigen technischen Problemen, die immer wieder das Faktotum „Fak“ beheben muss (vom kanadischen Celebrity-Koch und TV-Moderator Matty Matheson gespielt), über den Patissier Marcus (Lionel Boyce vom Hip-Hop-Kollektiv Odd Future), der allmählich Lust an der Spitzenkonditorei bekommt und darüber seine Pflichten vernachlässigt, bis hin zu einem mit Valiumpillen aus dem Ruder laufenden Cateringauftrag bei einem Kindergeburtstag – „The Bear“ versteht sich als Dramaserie, die immer wieder auch Comedy-Injektionen bereithält. Aber es geht eben auch um die finanziellen Kalamitäten, in die der Laden gerät, wenn etwa das Ordnungsamt vorbeischaut, eine Riesenmenge an Steuern nachgezahlt werden muss oder der mafiös wirkende Onkel Jimmy (Parade-Gastrolle für Oliver Platt, „Lake Placid“) en passant mitteilt, dass Michael bei ihm mit 300.000 Dollar in der Kreide stand.

Das Chaos verdichtet sich Szene um Szene, die Probleme türmen sich auf, und nebenher versucht Carmy noch die familiären Dinge zu regeln – etwa im Verhältnis zu seiner Schwester Sugar (Abby Elliott, „Odd Mom Out“), die mit ihrem biederen Ehemann (Chris Witaske aus „Love“) in der Vorstadt von Chicago wohnt und in der Misere des Ladens dennoch mit drinhängt. Den Sorgen des verstorbenen Bruders geht Carmy bei Al-Anon-Meetings nach, wo sich Angehörige von Alkoholikern und anderen Süchtigen treffen – Eighties-Ikone Molly Ringwald („Das darf man nur als Erwachsener“) spielt übrigens ein Mitglied dieser Gruppe.

Trauert ebenfalls über den Tod des älteren Bruders: Carmys Schwester Sugar (Abby Elliott) Hulu /​ Disney+

Erst über diesen Umweg kommt es am Ende zu einer fast märchenhaften Wendung zum Guten, die auf den ersten Blick ziemlich konstruiert wirkt, auf den zweiten Blick aber das perfekte Set-Up darstellt für die bereits georderte zweite Staffel. Diese Wendung kommt fast überraschend, nachdem Storer (der bislang als Produzent der Sitcom „Ramy“ und von Bo Burnhams „Eighth Grade“ auffiel) und Co-Showrunnerin Joanna Calo („BoJack Horseman​“) in den beiden letzten Folgen noch einmal das Maximum herausgeholt hatten: Die vorletzte Episode etwa, vielleicht das Meisterstück der Staffel, dauert nur zwanzig Minuten und besteht, nach der Eröffnungsmontage (zu den Klängen von Sufjan Stevens’ Song „Chicago“), aus einer einzigen Kamerafahrt kreuz und quer durch das Inferno dieser dysfunktionalen, durch allerlei Animositäten an den Rand gebrachten Küchenwelt, die am Ende folgerichtig kollabieren muss. Als Zuschauer gilt es, nach diesen zwanzig Minuten kräftig durchzuatmen.

Die Ruhe, die dann in der letzten Folge vorherrscht, wenn Jeremy Allen White eingangs einen bewegenden, mehrminütigen Monolog hält, diese Ruhe steht dem inszenatorischen Furor der vorangegangenen Folge diametral entgegen; beide Episoden direkt hintereinander anzuschauen ist eine tatsächlich körperliche Erfahrung.

Was letztlich aber für die gesamte Staffel gilt. Gewiss ist dieses Porträt der Küchenarbeit in der Gastronomie als nie endender Stresstest, als Auslaufgebiet toxischer Persönlichkeiten und vorgestrig wirkender Hierarchien nicht frei von Klischees, aber alle, die schon mal vor, hinter oder neben den Kulissen einer Gastronomieküche tätig waren, werden das, was man da sieht, nicht komplett von der Hand weisen können. Auch lassen sich manche Entwicklungen im Plot leicht vorhersehen – etwa, dass sich die zunächst so abweisende und unzugängliche Mannschaft irgendwann den Methoden von Carmy und Sydney zu öffnen beginnt und Carmy natürlich auch höchstpersönlich lernen muss, den auf ihm lastenden Druck in der Hierarchie nicht nach unten weiterzugeben. Dennoch sind die sich daraus ergebenden Figurenkonflikte, etwa zwischen Carmy und Richie oder Carmy und Sydney, immer fesselnd. Die Serie erweist sich sehr rasch als echtes Powerhouse in der derzeitigen Serienlandschaft. „The Bear“ ist ein hochenergetisches und brillant gespieltes Drama  – und einer der fesselndsten Neustarts in diesem Serienjahr.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der gesamten ersten Staffel von „The Bear“.

Meine Wertung: 4,5/​5

Die Auftaktstaffel von „The Bear“ wurde im Juni unter dem Label FX on Hulu beim US-Streamingdienst veröffentlicht. Einen bestätigten Termin oder Anbieter für die Deutschlandpremiere gibt es noch nicht – aber als FX-Productions-Serie im Vertrieb von Disney Platform Distribution scheint eine Veröffentlichung auf Disney+ gewiss.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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