„Vikings: Valhalla“: Valhallamarsch auf Netflix – Review

„Vikings“-Sequel setzt den bewährten Mix aus Action und Vulgärgeschichte auf Wiedervorlage

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 27.02.2022, 18:33 Uhr

Kampfbereit im Pfeilhagel: Die Wikinger auf dem Weg nach Walhall. – Bild: Netflix
Kampfbereit im Pfeilhagel: Die Wikinger auf dem Weg nach Walhall.

14 Monate nach dem Finale von „Vikings“ geht bei Netflix das Spin-Off an den Start: „Vikings: Valhalla“ spielt ein gutes Jahrhundert nach den Ereignissen der Mutterserie, setzt auf ganz neues Personal, bietet ansonsten aber die bewährte und unterhaltsame Mischung aus großzügig ausgelegtem Mittelalter-Geschichtsunterricht, Action und Gewalt, etwas Romantik, zotteligen Kerlen und nicht minder beinharten Frauen vor imposanten Nordland-Kulissen. Ob der Streaming-Ableger ähnliches Stehvermögen beweisen kann wie der beim Pay-TV-Sender History auf sechs Staffeln gekommene Vorgänger, bleibt abzuwarten, zumal das neue Setting limitiert ist: Konzentrierte sich „Vikings“ auf die Anfänge der Wikingerzeit ab dem Ende des 8. Jahrhunderts, steuert das Sequel nun geradewegs auf deren Ende zu, auf die Schlacht an der Stamford Bridge im Jahr 1066.

Spin-Offs, die sich ein paar Jahrzehnte bis Jahrhunderte auf der erzählerischen Zeitachse zurückbewegen, sind derzeit in Mode: Von „Yellowstone“ ging es jüngst rückwärts nach „1883“, in „House of the Dragon“ wird demnächst 200 Jahre zurück in die Vergangenheit von „Game of Thrones“ geblendet. In „Vikings: Valhalla“ folgt nun aber ein Sprung vorwärts in die Zukunft von „Vikings“ (die von uns aus gesehen freilich ebenso lang vergangene Mittelaltergeschichte ist). Dieser Zeitsprung erlaubt es den neuen Figuren, die Erlebnisse der alten Serie bei Bedarf ins Gespräch zu bringen: Ragnar Lodrok, der erste große, halb historisch verbürgte, halb mythisch erdachte Wikinger und seine Nachfolgegeneration, die in „Vikings“ Gegenstand der Handlung waren, finden immer dann Erwähnung, wenn sich gerade mal wieder zwei mit imposanten Bärten ausgestattete Kerle markige Sätze entgegenschleudern.

Und das geschieht häufig. Denn „Vikings: Valhalla“ setzt an einer Art point of no return an. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde Nordengland von zahlreichen dänischen Wikingern besiedelt (in einem „Danelag“ genannten Gebiet). Aus Furcht vor Überfremdung und halluzinierten Intrigen lässt König Aethelred (in der Serie ein Greis, tatsächlich war er damals erst Mitte dreißig) die Dänen am Gedenktag für den Heiligen Brictius brutal dahinmetzeln. In Reaktion auf dieses St.-Brice’s-Day-Massaker versammeln sich die wichtigsten Wikingerfürsten im norwegischen Kattegat, um die Eroberung Londons voranzutreiben: der künftige norwegische König Harald Sigurdsson alias Harald III. Hardråde (Leo Suter; „Sanditon“, „Clique“), Knut der Große, Herrscher des Nordseereichs (Bradley Freegard; „Keeping Faith“), Ladejarl Haakon (Caroline Henderson) sowie der zum Christentum konvertierte und manisch missionierende Olav der Heilige, der spätere Olaf II. von Norwegen (Jóhannes Haukur Jóhannesson; „Alpha“), die jeweils für sich schon Erfahrungen mit der englischen Krone gemacht haben.

Zwei der Rächer gegen London: Olaf der Heilige (Jóhannes Haukur Jóhannesson) und Harald Hardråde (Leo Suter). Netflix

Unerwartet wird diese Rachegemeinschaft noch um ein paar in Kattegat eintreffende Grönländer ergänzt: Leif Eriksson (Sam Corlett; „Chilling Adventures of Sabrina“) und seine Schwester Freydís Eiríksdóttir (Frida Gustavsson; „Tiger“) sind die Kinder des norwegisch-isländischen Seefahrers Erik des Roten und in ganz persönlicher Rachemission unterwegs, denn Freydís wurde von einem christlichen Wikinger vergewaltigt, der ihr ein riesiges Kreuz in den Rücken ritzte. Den Übeltäter treffen sie ausgerechnet im Gefolge des heiligen Olav an: Für Dramatik ist also gleich in der Pilotepisode gesorgt.

Die internen Rangeleien zwischen zum Christentum konvertierten Wikingern und solchen, die noch ganz altmodisch an Odin & Co. glaubten, sind belegt, die zentralen historischen Auslöser für die hier erzählte Geschichte ebenso, alles andere allerdings sollte man (wie schon in „Vikings“) nicht allzu erbsenzählerisch messen an dem, was in Geschichtsbüchern steht oder eben, mangels gesicherter Erkenntnisse, nicht steht. Ob das St-Brice’s-Day-Massaker wirklich eins war? Unklar. Ob die Seefahrer Leif und Freydís, die eher dafür bekannt waren, lange vor Columbus europäische Füße auf nordamerikanischen Boden gesetzt zu haben, tatsächlich mit der Attacke auf London zu tun hatten? Unwahrscheinlich. Dass diese Attacke nicht sofort nach dem Massaker, sondern ein Jahrzehnt später stattfand? Whatever. Und dass Knut, Olav, Harald und die anderen alle vermutlich sehr anders alt waren als in der Serie – geschenkt.

Drehbuchveteran Jeb Stuart („Stirb langsam“, „Auf der Flucht“), der den Showrunner-Job vom weiterhin mitproduzierenden Michael Hirst übernahm, nimmt sich die Rahmendaten und Figuren, wie sie ihm passen, und im Sinne einer guten Geschichte (die eben nicht immer die korrekte sein muss), geht das völlig in Ordnung. Darüber, dass er aus dem Ladejarl Haakon kurzerhand eine mittelalte Frau halb-afrikanischer Herkunft gemacht hat, mögen jene Leute sich ereifern, die das in solchen Fällen sowieso immer tun: Dafür, dass er so eine starke Rolle für die charismatische dänisch-schwedische Sängerin Caroline Henderson erschaffen hat, werden ihm alle anderen hingegen dankbar sein.

Aus Grönland angereist, in der Wikingergeschichte gelandet: Freydís (Frida Gustavsson) und ihr Bruder Leif (Sam Corlett). Netflix

Von Anfang an sorgt Pilot-Regisseur Niels Arden Oplev („Verblendung“, „Der Traum“) dafür, dass es an Schauwerten nicht mangelt. Der Orkan, durch den sich die Grönländer auf offener See in ihren Nussschalen gen Kattegat kämpfen, sicher geleitet von Leif Eriksson, wartet mit imposanten CGI-Wellen auf, auch das sich pittoresk in einen Fjord duckende Kattegat wirkt, am Computer entworfen, nicht ganz so künstlich, wie man es aus zahlreichen Fantasyserien kennt. Eine Prise harten Gore gibt es, als in den Massakerszenen sogar Kinder gemeuchelt werden. Die Parade der haarigen Kerle in Fellen und Tierhäuten kann sich sehen lassen, ihre Herkunft aus unterschiedlichen Regionen wird durch ein internationales Casting unterstrichen: Corlett ist Australier, Gustavsson Schwedin, Suter Engländer, Freegard Waliser, Jóhannesson Isländer. Dass Leo Suter mit seinem Herrendutt und dem makellosen Gebiss weniger wie ein mittelalterlicher Raufbold aussieht als wie der Barista eines Großstadtcoffeeshops gehört zum Attraktivitätsparadox solcher in dunklen Zeiten angesiedelten Produktionen nun mal dazu.

Eine erste Sexszene zwischen ihm und der nicht minder modelmäßig schönen Frida Gustavsson (Freydís’ Vergewaltigungstrauma hin oder her) im flackernden Kerzenschein wird ebenfalls schon recht früh eingestreut – freizügiger als „Vikings“ (dessen Erotikszenen in den USA meist zensiert wurden) ist sie trotz neuer Heimat bei einem Streamingdienst nicht geraten. Leif Eriksson darf sich unterdessen nicht nur als genialer Seefahrer auszeichnen, sondern auch als ein begabter Kämpfer – nacheinander gerät er in diverse Situationen, in denen er sich gleichsam im Demo-Modus prügelnd und/​oder mit Waffengewalt entsprechend auszeichnen und für weitere Auseinandersetzungen empfehlen kann. Und, ach ja, etwas Odins-Mystik gibt es auch, ins Spiel gebracht von Ladejarl Haakon.

Vorkehrungen am Königshof: Emma von der Normandie (Laura Berlin) schickt ihren Stiefsohn Edmund (Louie Davison, l.) und Earl Godwin (David Oakes) auf eine strategische Mission. Netflix

Nach der fälligen Auseinandersetzung mit Freydís’ Vergewaltiger werden Leif und seine Schwester, die schnell als Hauptfiguren identifiziert sind, zunächst getrennt: Leif soll die Recken beim Angriff auf die englische Krone unterstützten, Freydís muss in der Zwischenzeit bei Haakon bleiben und eigene Abenteuer absolvieren. Diese Trennung hilft den Autoren dabei, den Fokus zu erweitern, wenn es in der ruhiger angelegten zweiten Folge (inszeniert von „Vikings“-Veteran Steve Saint Leger) nicht nur weiter um die innernordische Konkurrenz zwischen Christen und „Heiden“ geht, sondern auch um die Situation am englischen Königshof. Weil der König todkrank ist, nimmt seine jüngere Frau, Emma von der Normandie (gespielt von der deutschen Schauspielerin Laura Berlin; „UFO – Es ist hier“), die Situation taktisch geschickt selbst in die Hand, indem sie den hadernden Thronfolger, ihren Stiefsohn, zusammen mit dem Earl Godwin von Wessex (der bestens kostümserienerfahrene David Oakes; „Die Borgias“, „Victoria“) losschickt, um Allianzen zu schmieden gegen die drohende Wikingerattacke. Sie vermutet diesen Überfall korrekterweise aus ungewöhnlicher Himmelsrichtung: „Vikings: Valhalla“ setzt, wie teilweise bereits „Vikings“, auf Frauenfiguren, die den Männern in Sachen Taktik und Gedankenschärfe nicht nur ebenbürtig, sondern oft überlegen sind.

Anders als „Vikings“, das den Beginn der Wikingerzeit schilderte und somit immer auf eine gewisse Aufbruchstimmung setzen konnte, bewegt sich „Vikings: Valhalla“ nun zu einer Zeit, in der die Großtaten von Ragnar Lodbrok längst Legende sind, auf ein großes Finale zu. Die vernichtende Niederlage unter Harald Hardråde in der Schlacht an der Stamford Bridge im Jahr 1066 (zugleich das Jahr der normannischen Eroberung Britanniens) gilt gemeinhin als das Ende der Wikingerzeit – was die Serie zwangsläufig zu einer Art Dekadenzgeschichte verdammt, zu einem Plot über ein letztes Aufbäumen vor dem unausweichlichen Ende. Dennoch ist in den ersten Episoden keine depressive Stimmung zu verzeichnen, sondern durchaus eine Kontinuität zur Vorgängerserie jederzeit spürbar: Auch wenn es an der Intrigentiefe und der schauspielerischen Klasse des quasi-mittelalterlichen „Game of Thrones“ mangelt, sorgt die vulgärhistorische Unbekümmertheit dieses launig nach vorne erzählten Seemannsgarns für absolut akzeptable Unterhaltung. Wer weiß: Vielleicht stehen auch diese neuen Nordmänner und -frauen erst am Anfang einer durchaus längeren Streamingreise.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Vikings: Valhalla“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die achtteilige Auftaktstaffel der Serie „Vikings: Valhalla“ wurde am Wochenende weltweit bei Netflix veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    ja, akzeptable Unterhaltung. Leider ist das darstellerische Niveau höchstens Abschlussklasse Schauspielschule. Ich vermisse Leistungen, die wirklich charismatische Figuren entstehen lassen. Bis auf David Oaks entwickelt dort niemand eine überzeugende Figur, an deren Schicksal ich interessiert wäre und die mich emotional mitreißen würde ... schade.

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