„Reservation Dogs“: Herrlich entspannte und wunderbar witzige Comedy ist Pflichtprogramm auf Disney+ – Review

Taika Waititi produzierte Serie über vier indigene US-Teenager

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 13.10.2021, 09:30 Uhr

Anzüge wie bei Tarantino: Willie Jack (Paulina Alexis), Elora (Devery Jacobs), Bear (D’Pharaoh Woon-A-Tai) und Cheese (Lane Factor) schreiten durch ihr Reservat. – Bild: FX/Disney
Anzüge wie bei Tarantino: Willie Jack (Paulina Alexis), Elora (Devery Jacobs), Bear (D’Pharaoh Woon-A-Tai) und Cheese (Lane Factor) schreiten durch ihr Reservat.

Eine der schönsten Überraschungen dieses Serienjahrs startet jetzt bei Disney+ in Deutschland: Die Comedy „Reservation Dogs“ erzählt auf wunderbar beiläufige, ebenso komisch-kauzige wie anrührende Weise von vier Teenagern, die im ländlichen Oklahoma in einem Reservat leben. Dass ausschließlich indigene Regisseur*innen und Autor*innen dabei das Ruder führten, ist revolutionär genug, dass trotz der vielen Schlaglichter auf die Probleme heutiger Native Americans kein grimmiges Sozialdrama daraus geworden ist, macht zudem besonders glücklich. Daher hier eine Lobrede auf diese acht 25-minütigen Episoden, die zum Frischesten zählen, was man in diesem Jahr streamen kann.

Konzipiert wurde „Reservation Dogs“ von Taika Waititi und Sterlin Harjo. Den Neuseeländer und Halb-Maori Waititi kennen wohl alle, die das Film- und Serienwesen der letzten Dekade wenigstens halbwegs verfolgt haben, und das nicht erst seit seinem Drehbuch-Oscar für „Jojo Rabbit“, sondern spätestens seit der gloriosen Vampir-Mockumentary „5 Zimmer Küche Sarg“. Sterlin Harjo muss man im deutschsprachigen Raum dagegen noch vorstellen: Der Native American (Mitglied der Seminole Nation of Oklahoma) hat schon ein paar Filme gedreht – „Mekko“ lief auch auf deutschen Festivals -, aber nichts, was man hierzulande kennen müsste. Harjo ist Gründungsmitglied der indigenen Sketchtruppe „1491s“, deren surreal angehauchter Humor durchaus anschlussfähig ist an die neuseeländischen Comedy-Kreise, aus denen Waititi hervorgegangen ist.

Gemeinsam schrieben Harjo und Waititi die Pilotfolge von „Reservation Dogs“, die zugleich den Ton und Rhythmus dessen vorgibt, was da in sieben weiteren Episoden noch folgen wird: Szenen und Episoden aus dem Leben von vier Sechzehnjährigen, die sich ihre Sommerferien irgendwo zwischen den vernachlässigten Ruinen auf den staubigen Straßen eines Reservats vertreiben. Gedreht wurde viel in Okmulgee, etwas südlich von Tulsa, in einer Gegend, die im US-amerikanischen Film und TV nicht unbedingt überrepräsentiert ist. Die Serie folgt zwar einem grundlegenden Narrativ, doch vor allem ist „Reservation Dogs“ ein Stimmungsbild, das bisweilen herrlich richtungslos dahingleitet wie ein Tumbleweed, das durch das Reservat geweht wird. Immer wieder wirft die Serie Blicke zur Seite, nach hinten und in besonders schräge Winkel, porträtiert dabei durchaus prägnant das sozial prekäre Leben vieler Native Americans (die im deutschsprachigen Raum nach wie vor Indianer genannt werden), bleibt dabei aber immer wundersam relaxt, unaufgeregt, anti-hektisch geradezu, und wird dabei vor allem von den vier phänomenalen Jungdarsteller*innen zusammengehalten, die die titelgebende Viererbande verkörpern.

Alleinerziehend aber liebevoll: Ärztin Rita Smallhill (Sarah Podemski) sorgt sich um Bear. FX/​Disney

Außer Devery Jacobs, die man schon ein paar Mal gesehen haben könnte (zuletzt etwa in „The Order“) und die hier die Rolle der Elora Danan übernahm, sind sie Newcomer: D’Pharaoh Woon-A-Tai spielt den attraktiven Bear Smallhill, einen großgewachsenen Wuschelkopf, der sich selbst als Anführer der Reservation Dogs sieht (was bei den anderen für Spott sorgt), Lane Factor den sanften Cheese und die in jeder Hinsicht wunderbare Paulina Alexis die begnadet ruppige Willie Jack. Eingeführt werden sie als quasi-kriminelle Jugendbande, in medias res beim ebenso dilettantischen wie erfolgreichen Diebstahl eines Kartoffelchips-Lieferwagens, den sie danach an eine Gruppe halbdebiler Meth-Heads verscherbeln. Im Grunde ist das ein Akt der verzweifelten Beschaffungskriminalität, denn seit dem Tod ihres Freundes Daniel, dessen Sterben sie dem Ort anlasten, in dem sie leben müssen, wollen die „Rez Dogs“, wie sie sich abgekürzt nennen, nur noch weg, und zwar nach Kalifornien. Dafür sammeln sie Geld, auf nicht immer vielversprechende Weise. Das klingt im Prinzip deprimierend, doch die Serie hat einen völlig anderen Tonfall, einen sehr einladenden Flow, der immer freundlich und zugewandt bleibt und die Parade exzentrischer Figuren, die in den Episoden aufgefahren wird, nie der Lächerlichkeit preisgibt. Auch darin zeigt sich der Waititi-Sound.

Der Titel spielt natürlich auf Quentin Tarantinos Regiedebüt „Reservoir Dogs“ an, und die schwarzen Anzüge, die die Gangster darin tragen, werden direkt anzitiert, wenn die vier Freunde ebensolche Anzüge bei einer improvisierten Gedenkveranstaltung für Daniel tragen. Mit Gangstern haben sie ansonsten aber wenig gemein, im Gegenteil: Als eine sich „NDN Mafia“ nennende Gang aufkreuzt und mit Paintballs um sich schießt, beginnt eine Art Kleinkrieg mit den Rez Dogs, bei dem vor allem Bear immer wieder einsteckt. In der letzten Episode sucht dann ein Tornado das Reservat heim, und im Schutzkeller der lokalen Kirche werden einige Konflikte aufgelöst. Doch, wie erwähnt, so richtig wichtig ist dieser Grundplot nicht. Die einzelnen Folgen, von denen Showrunner Harjo fünf schrieb und drei inszenierte, sind eher als Kapitel aus dem Coming-of-Age der vier Protagonist*innen zu betrachten, die mal hierhin, mal dorthin blicken und nach und nach verschiedene Figuren in den Blick nehmen und anhand dieser Figuren die sozialen Zusammenhänge skizzieren, in denen sie leben.

Ein Moment der Stille: Die „Rez Dogs“ gedenken ihres toten Freundes Daniel. FX/​Disney

Mit Tarantinos Arbeitsansatz gemein hat die Serie auch das Spiel mit popkulturellen Verweisen und mit dem Einsatz völlig unterschiedlicher Musikstile auf dem Soundtrack: Von Folk über Klassik bis Hip-Hop und Doom Metal wird hier nach Gusto alles Mögliche reingeschaltet, auch neue (Samatha Crain, The Halluci Nation) wie alte (John Angaiak, Redbone) indigene Künstler sind dabei immer wieder zu hören. Dazu passt das wunderbare Pastiche kurioser Charaktere: Matty Cardarople („Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“) spielt einen der verstrahlten Drogentypen, zwei kleinwüchsige Rapper kreuzen immer wieder auf ihren Fahrrädern auf, Macon Blair („Blue Ruin“) hat einen Kurzauftritt als lokaler Cafébesitzer, und der Comedian Bobby Lee (seit seligen „MADtv“-Tagen arg vermisst) spielt sehr toll den verbitterten Arzt Dr. Kang, der im Reservatskrankenhaus für alles zuständig ist, „von den Zehen über das Rückgrat bis zum Arschloch“ alles behandelt – und sich nach der Arbeit begnadet peinlich an Bears alleinerziehende Mutter heranmacht.

Auch das ist so eine typische „Reservation Dogs“-Sache: Dass Bear und Elora nur mit jeweils einem Elternteil aufwachsen, dass es um die Familienzusammenhänge in den Indianerreservaten eher gar nicht gut bestellt ist, wird eher nebenbei zum Thema, genauso wie die Herablassung weißer Polizisten gegenüber indigenen Kollegen, die in den Reservaten grassierenden Krankheiten Alkoholismus und Diabetes oder die Überforderung des lokalen Gesundheitswesens. Es ist grandios, wie es Showrunner Harjo und seinem Writer’s Room gelingt, diese Probleme in Gags und komödiantische Szenenfolgen einzubauen, ohne sie dabei zu verharmlosen. In der vorletzten und vielleicht besten Episode, in der Elora von ihrem Fahrlehrer auf einen unerwarteten Trip mitgenommen wird, kulminiert diese erzählerische Strategie, Ernst und skurrilen Witz miteinander zu verbinden. Immer wieder wechselt der Tonfall mit bewunderswerter Sicherheit vom Absurden ins Berührende – etwa wenn es um Bears verantwortlungslosen Vater geht, einen verkrachten Rapper, um die Hintergründe von Daniels Tod oder um die vernagelten Zukunftsperspektiven der vier Freunde.

Vorsicht Gammelfleisch! Elora und Willie Jack verscherbeln Pasteten, Officer Big (Zahn McClarnon) hat bald Bauchweh. FX/​Disney

Zahn McClarnon (seit „Into the West“ der Indianer vom Dienst in allen möglichen US-Serien) darf hier endlich mal eine komische Rolle übernehmen und als immer leicht neben der Spur wandelnder Reservatspolizist Big diverse Szenen stehlen. „Zucker ist die Waffe der Weißen“, weist er Bear auf die Gefahren übermäßigen Softdrink-Genusses hin, „in ihrer chemischen Kriegsführung gegen uns.“ Dem Chips-Truck-Diebstahl bleibt er dagegen eher lausig auf der Spur. Ebenso toll: Gary Farmer, bekannt aus Jim Jarmuschs „Dead Man“. Er spielt Eloras wunderlichen Onkel Brownie, den die Rez Dogs in seiner einsamen Waldhütte aufsuchen. Ihm eilt der Ruf eines genialen Kneipenschlägers voraus, weshalb sie sich von ihm Beistand im Kampf gegen die NDN Mafia erhoffen – doch der grantige Onkel will eigentlich nur sein vor 15 Jahren verbuddeltes Weed verhökern, ein vergebliches Unterfangen in Zeiten des in Oklahoma legalisierten Cannabisverkaufs. Und dann ist da noch Garrett Hedlund („Tron: Legacy“), der als rassistischer Sportmediziner einen denkwürdigen Auftritt hat.

Es wird nie langweilig in „Reservation Dogs“, obwohl bzw. gerade weil die Serie das Skizzenhafte ihres Ansatzes nie verhehlt. Teilweise haben die Szenen etwas fast Dokumentarisches: Der Slang der Kids (in der Originalfassung kann man viel lernen: NDN für Indian, Rez für Reservation, Skoden für „Let’s go then“ usw.) wirkt aus den Mündern der Jungdarsteller*innen völlig unaufgesetzt, die kraftvollen Bilder der Kameramänner Mark Schwartzland („Master of None“) und Christian Sprenger („Atlanta“) haben einen ausgeprägten Sinn für den Ort, an dem diese Geschichten spielen. Dass das Ganze ein echtes Herzensprojekt von Sterlin Harjo ist, wird auch daran deutlich, dass er seine „1491s“-Sketchkollegen in das Projekt miteinbezog, als Autoren oder Darsteller: Dallas Goldtooth etwa spielt einen Geist, der Bear, wenn dieser mal wieder verprügelt wurde, in Mentorengestalt erscheint und davon schwadroniert, bei der berühmten Schlacht am Little Bighorn dabeigewesen zu sein, von General Custers letztem Aufgebot aber gar nichts mitbekommen zu haben, weil er stattdessen von seinem in eine Mine getreteten Pferd zerquetscht worden sei. Wichtiges Stilmittel in „Reservation Dogs“: eine sehr gesunde Selbstironie. Auch die Teens sind hier keine Helden, die zwecks Selbstfindung Großes leisten müssen, sie sind einfach Teens, die mal Dümmeres, mal Klügeres schwätzen und sich nicht allzu wichtig nehmen.

Nachdem die für den Kabel-Sender Fx produzierten Folgen in den USA kürzlich beim Streamingdienst Hulu durchgelaufen waren, wurde direkt eine zweite Staffel bestätigt – eine tolle Nachricht. Es dürfte spannend sein zu sehen, was Harjo mit den vier Figuren und ihrem Umfeld noch alles anfangen kann. Vielleicht ist dies nur der Beginn einer langen, aufregenden und dabei immer gut abgehangenen Reise.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der gesamten ersten Staffel von „Reservation Dogs“:

Meine Wertung: 4,5/​5

Die achtteilige Auftaktstaffel von „Reservation Dogs“ wird in Deutschland ab dem 13. Oktober bei Disney+ veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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