„Powerplay“: NDR überrascht mit einer der besten Serien des Jahres – Review

Liebevoll-lästerliche Historienserie über Norwegens Politik

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 29.12.2023, 16:30 Uhr

Zwischen den wilden Kerlen beherrscht Gro Harlem Brundtland (Kathrine Thorborg Johansen) ihr „Powerplay – Smart Girls Go for President“ – Bild: NDR / Motlys / Erika Hebbert
Zwischen den wilden Kerlen beherrscht Gro Harlem Brundtland (Kathrine Thorborg Johansen) ihr „Powerplay – Smart Girls Go for President“

Zum Jahreswechsel überrascht der NDR mit „Powerplay – Smart Girls Go for President“: Der Sender NRK und deutsche Partner zeigen, wie Gro Harlem Brundtland traditionelle Männerrunden aufmischt und bis zur norwegischen Regierungschefin aufsteigt. Bereits die reale Politikerin könnte das deutsche TV-Publikum faszinieren. Mit verrückten Ideen hat das Team die Geschichte zu einem erzählerischen Brillanten geschliffen. Die sechs Folgen mögen vielleicht nicht den Massengeschmack befriedigen. Doch welche andere Serie des Jahres 2023 übertrifft diese Mischung aus Porträt und Satire? Ab dem 2. Januar verteilt das NDR Fernsehen die sechs Episoden auf drei Abende. Zusätzlich steht diese erste Staffel seit dem 29. Dezember in der ARD Mediathek zum Streaming bereit. Sowohl norwegische als auch deutsche Beteiligte haben eine Fortsetzung für 2024 bestätigt.

Realität liefert packenden Stoff

Politiker grabschen, intrigieren und saufen

Die tatsächlichen Ereignisse rund um Gro Harlem Brundtland liefern packenden Stoff für mehrere Fernsehabende. Die wilden Kerle rechnen mit keiner aufmüpfigen Frau, sondern brauchen ein weibliches Wesen als Alibi für ihre Umtriebe. Wie gewohnt wollen sie grabschen, intrigieren und saufen. Nach einer verlorenen Abstimmung zur Abtreibung kritisiert Gro: Warum müssen sie immer lügen? Sie haben schon einen roten Kopf, wenn sie sich aus dem Stuhl quälen. Die Nachwuchspolitikerin überwindet ihre Naivität. Ihre Pläne zum Naturschutz empören Parteifreunde und Kabinettskollegen. So schimpft Bjartmar Gjerde (Øyvind Brandtzæg): Das Umweltministerium ist doch nur symbolisch. Gro meidet die üblichen Saunarunden und Geheimzirkel, um Macht mit eigenen Methoden zu erobern.

Serie basiert auf Wahrheit, Lügen und miesen Erinnerungen

Wesentliche Fakten stimmen. Chefautor Johan Fasting und Hauptdarstellerin Kathrine Thorborg Johansen bestätigen, dass sie intensiv recherchiert haben. Der Vorspann entschuldigt Fehler: Nach all den Gesprächen mit Zeitzeugen gründe das Ergebnis auf Wahrheit, Lügen und miesen Erinnerungen. Eingestreutes Archivmaterial mag glaubwürdig erscheinen, obwohl die Zuschauerinnen und Zuschauer über die unterschiedlichen Gesichter stolpern. Die Serienmacher setzen eher auf Spaß als auf dokumentarische Genauigkeit. Experimentierfreude prägt sowohl das Drehbuch als auch die Inszenierung. Originelle Bildwechsel und der Einsatz von Handkameras wecken Aufmerksamkeit.

Gro Harlem Brundtland (Kathrine Thorborg Johansen) steht zwischen dem künftigen Staatsminister Odvar Nordli (Anders Baasmo, l.) und Parteichef Reinulf Steen (Jan Gunnar Røise). NDR/​Motlys/​Novemberfilm/​NRK

Serie wirkt aufregend und anarchisch

„Powerplay“ lebt von Widersprüchen

Johan Fasting und seine Leute jagen durch vergangene Zeiten, ohne Widersprüche zu erklären. Aktuelle Autos und Gebäude prägen die Straßenszenen. Indes vernebelt Zigarettenqualm wie damals die Räume. Mitunter wandeln Figuren in unmodernen Klamotten durch improvisierte Kulissen. Plötzlich wechseln sie zwischen den Szenen. Gebrauchte Alltagsgegenstände und ausgeblichene Farben vermitteln ein Gefühl für die 70er- und 80er-Jahre.

Sozialisten streiten im abgedunkelten Fahrstuhl

Typisch für eine Mockumentary: Millionär Arvid Engen (Trond Espen Seim) kommentiert das Geschehen aus dem Hintergrund. Er fragt, was nach den Dreharbeiten herauskommen soll. Ein Film, lautet die knappe Antwort, auf die Arvid cool reagiert: Das dachte ich mir – ich bin ja tot. So wie dieses absurde Geständnis wirkt die gesamte Serie aufregend und anarchisch. Als wiederkehrende Gags gelingen Streitgespräche im abgedunkelten Fahrstuhl. Abwechslung entsteht etwa durch Gedanken, Phantasien, Träume und Zeitsprünge. Soundeffekte und Musik betonen die Stimmung.

Regierungschef Odvar Nodli (Anders Baasmo) verzweifelt, als er einen anderen Odvar Nodli beobachtet. NDR/​Motly/​Novemberfilm/​NRK

Wir fordern Aufklärung mit Spaß

Bedenkenträger verhindern kreative Freiheit

Im Vereinigten Königreich fallen in historischen Serien klare Worte über bekannte Politiker – zum Beispiel in „A Very English Scandal“, „Brexit – Chronik eines Abschieds“ und in der königlichen Seifenoper „The Crown“. Hingegen präsentiert das deutsche Fernsehen in seinen Aufarbeitungen seriös die Schicksale etwa von Konrad Adenauer („Konrad Adenauer – Stunden der Entscheidung“), Willy Brandt („Im Schatten der Macht“) und Helmut Kohl („Der Mann aus der Pfalz“). Der Respekt schwindet bei einem Riesenskandal wie in „Der Fall Barschel“. Immerhin darf Angela Merkel leidlich in der Krimi-Parodie „Miss Merkel“ amüsieren. Ansonsten gestatten Bedenkenträger leider keine kreative Freiheit wie bei „Powerplay“.

NDR bewundert dreiste Kollegen aus Norwegen

Eine fremde Zielperson wie Gro Harlem Brundtland rückt in die Ferne. Dann bewundert der NDR die Dreistigkeit der norwegischen Kolleginnen und Kollegen, ohne eine Klage von beleidigten Leberwürsten zu fürchten. Übrigens strebt die ARD nach jungen Angeboten für die Streamer-Generation, heißt es im Presseheft. Liebe TV-Sender und Streaming-Dienste: Bitte gebt uns mehr Aufklärung mit Spaß! Den Boden bereitet haben zahllose Politikdramen wie „Borgen“ aus Dänemark und „House of Cards“.

Anders als die Parteifreunde schweigen Gro Harlem Brundtland (Kathrine Thorborg Johansen) und Reiulf Steen (Jan Gunnar Røise) im Fahrstuhl. NDR/​Motly/​Novemberfilm/​NRK

Norwegen kennt Gro Harlem Brundtland als Partei- und Regierungschefin

Spitzenpolitikerin kämpft für Frauenrechte, Gesundheit und Klimaschutz

Frauenrechte und Klimaschutz liegen Gro Harlem Brundtland am Herzen. Sie startete 1974 als norwegische Umweltministerin. Zuvor hatte sie Medizin etwa an der Harvard University studiert und zeitweilig Patienten versorgt. 1981 regierte die Politikerin das skandinavische Land, musste aber nach wenigen Monaten aufgeben. Trotzdem leitete sie die sozialdemokratische Arbeiderpartiet für elf Jahre. 1986 kehrte Gro als Staatsministerin an die Spitze zurück. Nach einer einjährigen Unterbrechung übernahm sie 1990 erneut die Verantwortung bis 1996. Als Abgeordnete und in unterschiedlichen Ämtern hat Gro für Nachhaltigkeit und Gesundheitsfürsorge gekämpft. Jetzt gehört die 84-Jährige zum Stadtrat von Oslo. Fans bezeichnen die engagierte Frau als „Mutter der Nation“. Die erste Staffel beleuchtet die Zeit von 1974 bis zu Odvar Nordlis Regierungskrise von 1981.

Taktiker suchen Vorzeigefrau

Trygve Bratteli (Lasse Kolsrud) verliert 1974 die Lust, seine Partei anzuführen. Reiulf Stehen (Jan Gunnar Røise) wittert seine Chance. Die Gegner fürchten, dass der populistische Linke den Sozialdemokraten schadet. Sie fördern den Langweiler Odvar Nordli (Anders Baasmo). Die Flügelkämpfer schicken Trygve Bratteli ebenso als Staatsminister in die Wüste. Sie akzeptieren Reiulf lediglich als Parteivorsitzenden. Widerwillig übernimmt Odvar den Posten als Regierungschef. Eine Vorzeigefrau soll Stimmen sammeln. Folgerichtig gewinnen die Taktiker Gro Harlem Brundtland als Umweltministerin.

Tochter eines erfahrenen Genossen könnte triumphieren

Die Tochter eines erfahrenen Genossen erkennt langsam die Intrigen. Ein Unglück auf einer Bohrinsel spielt ihr in die Hände. Vorerst kann sie sich nicht durchsetzen. Ihr Eifer gefällt Reiulf, der ansonsten säuft. Monate später werden Unmengen an Bier und Schnaps in einen Wahlkampfzug geladen. Bei so vielen Journalisten wäre es peinlich, wenn’s schon auf halber Strecke nichts mehr gibt. Es wird auf andere Weise peinlich, weil ein vertrauensseliger Minister herumquatscht. Reiulf belästigt Gro auf dieser Reise. Er wird diese Entgleisung ewig bedauern. Irgendwann erwartet er eine Verschwörung – zumal eigene Heimtücke den Argwohn anheizt. Der Parteivorsitzende verjagt Gro aus dem Kabinett. Nun netzwerkt sie als Abgeordnete im Parlament. Odvars Position wackelt. Hört ihn tatsächlich jemand ab? Eine Ölkatastrophe haut den Staatsminister um. Derweil unterlaufen Reiulf schwere Fehler. Ferner hetzt er gegen Gro, die an ihrem Eigensinn festhält. Dennoch könnte sie demnächst triumphieren.

Die Entwicklung beunruhigt Gro Harlem Brundtland (Kathrine Thorborg Johansen) und Parteisekretär Ivar Leveraas (Manish Sharma). NDR/​Motly/​Novemberfilm/​NRK

Deutsche Mitarbeit verdient Lob

ARD Mediathek bietet richtigen Platz

„Powerplay“ informiert und unterhält so originell wie kaum eine andere Serie des Jahres. Allerdings könnte das Stammpublikum im Ersten diese ungewöhnliche Produktion ablehnen. Sie ist gut im NDR Fernsehen aufgehoben. Zumindest der WDR und der SWR werden wohl die einstündigen Folgen ausstrahlen, weil diese Sender als zusätzliche Co-Produzenten mitmischen. Nicht zuletzt bieten One und die ARD Mediathek den jüngeren Usern genügend Platz. Die inhaltliche und finanzielle Unterstützung aus Deutschland verdient Lob. Norwegen beeindruckt mit Serien wie„Beforeigners“, „Occupied – Die Besatzung“, „Ragnarök“ – und eben „Powerplay – Smart Girls Go for President“.

Dieser Text beruht auf der Sichtung der ersten Staffel von „Powerplay – Smart Girls Go for President“.

Meine Wertung: 5/​5

Seit 29. Dezember steht die erste Staffel in der ARD Mediathek zum Streaming bereit. Zudem laufen die ersten drei Folgen im NDR Fernsehen – am 2. Januar ab 22:30 Uhr. Am nächsten Tag sind zwei weitere Episoden ab 23:30 Uhr zu sehen. Zur gleichen Zeit am 4. Januar zeigt der Sender den letzten Teil. Die Fortsetzung startet 2024 zu einem späteren Termin.

Deutscher Trailer zu „Powerplay“ (ARD erlaubt derzeit keine Einbettung)

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

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