Das deutsche Fernsehjahr 2022 im Rückblick: Schlesinger-Skandal, Retrowelle, Streaming Wars

Das waren die wichtigsten Trends und Ereignisse des TV-Jahres

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 25.12.2022, 09:00 Uhr

Buhrow schlägt Fusion von ARD und ZDF vor, Himmler will 100 Millionen Euro im ZDF umschichten

ARD-Vorsitzender Tom Buhrow (l.) und ZDF-Intendant Norbert Himmler (r.) WDR/​Herby Sachs/​ZDF/​Tim Thiel

Aufgrund des Skandals um die ehemalige rbb-Intendantin Patricia Schlesinger steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk allgemein stark in der Kritik. Dass sich am System etwas ändern muss, ist sowohl der ARD als auch dem ZDF klar. Im Detail unterscheiden sich die Vorstellungen davon, wie das Angebot in Zukunft aufgestellt sein soll, jedoch ziemlich drastisch. Im November meldeten sich sowohl der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow als auch der ZDF-Intendant Norbert Himmler zu Wort.

Zwei Monate vor dem Ende seiner vorübergehenden Tätigkeit als ARD-Vorsitzender hielt Buhrow eine Rede, als Privatmann, wie er betonte, vor dem Übersee-Club Hamburg, die in einer gekürzten Version auch in der FAZ erschienen ist. Er sei für eine Neuordnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und stellte dabei sogar die Grundsatzfrage: Die erste Frage – glaube ich -, die wir uns stellen müssen, ist: Will Deutschland im 21. Jahrhundert weiter parallel zwei bundesweite, lineare Fernsehsender? Wenn nicht: Was heißt das? Soll einer ganz verschwinden und der andere bleiben? Oder sollen sie fusionieren, und das Beste von beiden bleibt erhalten?

Verschlankung: Wie viele ÖR-Sender soll es künftig geben?

Wie viele Spartensender soll es weiterhin geben? Wäre es nicht vernünftiger, einige Inhalte der linearen Programme ins Digitale, in die Mediathek zu verschieben? Der ARD-Vorsitzende ging sogar so weit zu prophezeien: Ich glaube, dass es im Jahr 2030 eine einzige große, öffentlich-rechtliche Mediathek für non-lineare Inhalte geben wird. Nur so könne der öffentlich-rechtliche Rundfunk privatwirtschaftlichen Konkurrenten wie Netflix die Stirn bieten. Mein fester Eindruck ist: Deutschland scheint uns in zehn Jahren nicht mehr in dem Umfang zu wollen – und auch finanzieren zu wollen wie heute.

Auch zur ebenfalls häufig debattierten Frage, wie viele Radiosender die ARD brauche, äußerte sich Buhrow. Beethoven klingt schließlich in Heidelberg nicht anders an als in Halle oder Hamburg, stellte er provokant fest. In Anlehnung an den Deutschlandfunk könne er sich ein bundesweites ARD-Radio vorstellen. Zudem betonte Buhrow die Bedeutung von Kultur – und warf dennoch die Frage auf, ob die ARD wirklich 16 professionelle Musik-Ensembles unterhalten müsse. Wollen die Beitragszahler das? Wollen sie es in dieser Größenordnung? Oder wollen sie ein Best of? Für Buhrow führe kein Weg an weitreichenden Reformen vorbei und er sehe die Aufgabe darin, einen 10- oder 15-Jahresplan aufzustellen mit dem klaren Ziel eines schlanken, starken und modernen gemeinnützigen Rundfunks. Der Weg dorthin müsse der sozialen Verantwortung gerecht werden, womit Buhrow durch die Blume die in dem Zusammenhang wohl unausweichlichen Personaleinsparungen ansprach.

Runder Tisch „ohne Denkverbote“

Tom Buhrow WDR/​Annika Fußwinkel

Tom Buhrow stellte klar: Wenn man den Beitrag reduzieren will, muss man den Umfang unseres Angebots reduzieren. Das Problem sei in diesem Zusammenhang, dass niemand bereit sei, das Risiko zu tragen, Empörung unter den Zuschauern, Mitarbeitenden oder Lobbygruppen auszulösen. Zudem seien die durchaus berechtigten Standortinteressen der Länder und der regionalen Sender bei der Debatte allgegenwärtig und auch nachvollziehbar.

Anlegen müsste man sich zudem mit den unterschiedlichen Interessenverbänden, die sofort heftigsten Widerstand leisten würden. Es führt aber nirgendwo hin, wenn man einerseits ständig schimpft, die Sender seien zu groß und zu teuer – aber wann immer wir über eine Reformmaßnahme reden, zieht jeder Lobbyist, jede Gewerkschaft, jeder Interessenverband, jede Landesregierung und jeder Sender einen Zaun um das, was für einen selbst wichtig ist – und fordert oft sogar noch eine Ausweitung.

Ideen, wie man das Problem lösen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk für die Zukunft aufstellen kann, hatte Buhrow dennoch. Er forderte einen runden Tisch in Deutschland, der die großen, grundsätzlichen Fragen beantwortet und einen Generationenvertrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es sei ein gedanklicher Neuanfang notwendig, ohne die typischen Selbstverteidigungsreflexe. Ohne Denkverbote.

ZDF-Intendant Norbert Himmler kontert und weist Fusionsvorschlag zurück

Norbert Himmler ZDF/​Tim Thiel

Einen Tag nach Buhrows Rede reagierte ZDF-Intendant Norbert Himmler auf die Äußerungen seines ARD-Kollegen – sowohl im Rahmen eines Pressegesprächs als auch in einem vom ZDF veröffentlichten Statement. Himmler, der im März dieses Jahres auf seinen Vorgänger Thomas Bellut folgte, sei offen und bereit für eine grundsätzliche Debatte und das ZDF scheue dabei auch keinen Vergleich der Systeme. Als nationaler, zentral organisierter Sender ist das ZDF effizient aufgestellt und dabei lern- und veränderungsfähig. Eine Debatte über den Auftrag und den Umfang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sei wichtig. Ich teile aber nicht die pauschale Skepsis des ARD-Vorsitzenden in Bezug auf die Reformfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das ZDF hat in den letzten Jahren bewiesen, dass erfolgreiche Reformen möglich sind. Dafür stünden Angebote wie ZDFinfo, ZDFneo, die digitale Plattform ZDFkultur oder die ZDFmediathek.

Diese Beispiele würden zeigen, wie sich das ZDF konsequent und ohne zusätzliches Geld kontinuierlich auf die neue Medienwelt einstellt. Auch nehme ich die Medienpolitik als beweglicher wahr, als Tom Buhrow das tut, stellte Himmler klar. Die Initiative etwa, mit funk ein nonlineares Angebot für junge Leute zu beauftragen, ging von den Ländern aus. Der neue Medienstaatsvertrag eröffne dem ZDF und der ARD viele Möglichkeiten für eine flexible, eigenverantwortliche Entwicklung und stärke überdies die Rolle der Gremien bei der Überprüfung von Programmqualität. Zur Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks insgesamt gehört bisher auch der publizistische Wettbewerb zwischen ZDF und ARD. Somit erteilte Himmler der von Buhrow geäußerten Vision einer Fusion von ARD und ZDF eine deutliche Absage.

Umschichtung von 100 Millionen Euro

Konkrete Pläne stellte Norbert Himmler im Pressegespräch ebenfalls vor. So kündigte der Intendant eine dauerhafte Umschichtung eines Budgets in Höhe von 100 Millionen Euro an, um speziell jene Zielgruppen zu erreichen, die die Angebote des ZDF zuletzt wenig nutzten. Derzeit erreiche der Sender rund 20 Prozent der Bevölkerung nicht, insbesondere Jüngere und Zuschauer aus sozial schwächeren Schichten. Letztendlich sollen mehr Finanzmittel in die Digitalkanäle und die ZDFmediathek fließen, während es entsprechend weniger Geld für das lineare Hauptprogramm gäbe. Dieser Umschichtungsprozess soll bis 2025 laufen.

Des Weiteren habe die Medienforschung des ZDF Millionen Datensätze aus den Jahren 2019 und 2020 analysiert und daraus sechs sogenannte Content Communities abgeleitet, die man nun gleichermaßen mit für sie passenden Inhalten ansprechen will. Darüber hinaus wolle man mit den Zuschauern viel mehr als bisher in den direkten Dialog treten. So schwebe Himmler ein bundesweites Online-Panel vor, das aus bis zu 100.000 Teilnehmern bestehen soll, die regelmäßig Feedback und Anregungen geben können. Ein sogenannter ZDF-Kompass soll zudem zur Messung der Programmqualität dienen. Darüber hinaus betonte Himmler mehr Transparenz: So können ab sofort Nutzer der ZDFmediathek nachlesen und nachvollziehen, wie persönliche Empfehlungen zustandekommen. Diese Offenlegung der Algorithmen sei ein echtes Unterscheidungskriterium zu privatwirtschaftlichen Streaminganbietern.

Das Jahr 2023 verspricht also aus fernsehpolitischer Sicht erneut ein spannendes zu werden.

zurück

Über den Autor

Glenn Riedmeier ist Jahrgang ’85 und gehört zu der Generation, die in ihrer Kindheit am Wochenende früh aufgestanden ist, um stundenlang die Cartoonblöcke der Privatsender zu gucken. „Bim Bam Bino“, „Vampy“ und der „Li-La-Launebär“ waren ständige Begleiter zwischen den „Schlümpfen“, „Familie Feuerstein“ und „Bugs Bunny“. Die Leidenschaft für animierte Serien ist bis heute erhalten geblieben, zusätzlich begeistert er sich für Gameshows wie z.B. „Ruck Zuck“ oder „Kaum zu glauben!“. Auch für Realityshows wie den Klassiker „Big Brother“ hat er eine Ader, doch am meisten schlägt sein Herz für Comedyformate wie „Die Harald Schmidt Show“ und „PussyTerror TV“, hält diesbezüglich aber auch die Augen in Österreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten offen. Im Serienbereich begeistern ihn Sitcomklassiker wie „Eine schrecklich nette Familie“ und „Roseanne“, aber auch schräge Mysteryserien wie „Twin Peaks“ und „Orphan Black“. Seit Anfang 2013 ist er bei fernsehserien.de vorrangig für den nationalen Bereich zuständig und schreibt News und TV-Kritiken, führt Interviews und veröffentlicht Specials.

Lieblingsserien: Twin Peaks, Roseanne, Gargoyles – Auf den Schwingen der Gerechtigkeit

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1976) am

    Man kann es auch kurz zusammen fassen: Das Deutsche Fernsehen zeigten auch 2022 überaus großen Mut zur Feigheit.


    Fast alles, was einigermaßen brauchbar war, lief in Streaming-Formaten. Das deutsche TV ist tot. Bitte nicht wiederbeleben.

    weitere Meldungen