Paris Calligrammes

F / D 2020 (129 Min.)
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Brasserie Lipp: Vom Obergeschoss der Brasserie Lipp schaut man auf das Café de Flore. Beide Lokale waren in den 1960er Jahren Treffpunkte auch von bekannten Künstlern und Intellektuellen. – Bild: ZDF und Ulrike Ottinger.
Brasserie Lipp: Vom Obergeschoss der Brasserie Lipp schaut man auf das Café de Flore. Beide Lokale waren in den 1960er Jahren Treffpunkte auch von bekannten Künstlern und Intellektuellen.

„Ich war 20 Jahre jung und mit dem festen Ziel nach Paris gekommen – eine große Künstlerin zu werden“: Ulrike Ottinger erinnert sich an ihre Anfänge in den bewegten 1960er-Jahren. In einem dichten Strom aus akustischem und visuellem Archivmaterial, verknüpft mit eigenen künstlerischen und filmischen Arbeiten, entsteht das vielschichtige Bild einer Epoche aus persönlicher Sicht, die Kunst, Politik, Modisches und Geschichte erfasst. Ulrike Ottinger lässt das Quartier Saint-Germain-des-Prés und das Quartier Latin mit ihren Literatencafés und Jazzkellern, die Begegnung mit Vertretern des jüdischen Exils, das Zusammenleben mit ihren Künstlerfreunden, die Gedankenwelt der Pariser Ethnologen und Philosophen, die politischen Umwälzungen des Algerienkrieges und des Mai 1968 sowie das Erbe der kolonialen Zeit wieder aufleben.

„Ich folgte den Spuren meiner Heldinnen und Helden“, erzählt Ottinger, „und wo immer ich sie fand, werden sie in diesem Film erscheinen.“ Ausgangspunkt ihrer Entdeckung von Paris war das deutsche Antiquariat „Librairie Calligrammes“ des jüdischen Exilanten Fritz Picard, der rund 25 Jahre zuvor vor den Nazis nach Frankreich geflohen ist.

Die geteilte Liebe zur Literatur begründet eine Freundschaft, die ihren Ausdruck darin findet, dass Ottinger Picard auf seinen Streifzügen begleitet, beim Ankauf von auf der Flucht von Exilanten zurückgelassenen Büchern. Einigen der Künstler, die sich im Gästebuch Picards verewigten, begegnete Ottinger in der „Librairie Calligrammes“ persönlich, weil Exilanten und französische Intellektuelle bei Picard ein- und ausgehen, darunter Jean Arp, Ré, Philippe Soupault und Walter Mehring.

Künstlerisch bildet sich Ulrike Ottinger bei Johnny Friedlaender weiter, der sie in Radiertechniken unterrichtet und den Grundstein für ihre erste Karriere als bildende Künstlerin legt. Bald wendet sie sich jedoch zusammen mit ihren Pariser Künstlerfreunden der französischen Variante der internationalen Pop-Art zu, der „Nouvelle Figuration“ oder „Figuration Narrative“.

Zwei einschneidende politische Ereignisse rahmen Ulrike Ottingers Pariser Jahre: der ausgehende Algerienkrieg mit dem Massaker von Paris und die Studentenrevolte samt Generalstreik 1968. Das schärft ihre Sicht auf die koloniale Vergangenheit des Landes, die im Fall Algeriens bis heute weitgehend verschwiegen ist, aber in den Architekturen des ehemaligen Parc Colonial oder des „Musée nationale de l’histoire de l’immigration“ noch immer sichtbar ist.

Ottingers Blick auf die Überlagerung vergangener und heutiger kolonialer Strukturen ermöglicht ihr auch die kritische Reflexion des eigenen Standpunkts. Vietnam und seine Folgen werden schließlich zum politischen Scheidepunkt ihrer Pariser Existenz. Ottinger und ihre Freunde diskutieren Kunst und Politik, bis „extreme ideologische Verhärtungen“ einen Dialog unmöglich machen. „Dem Mai 68 mit seinen berechtigten Forderungen nach Reformen war das Ziel aus den Augen geraten“, konstatiert Ottinger.

Im Sinne der ursprünglichen Proteste hatte sich zu wenig geändert – und doch war alles anders. „Für mich war eine Ära zu Ende, eine andere begann.“ 1969 verlässt Ulrike Ottinger Paris und wendet sich dem Filmemachen zu, durch das sie alles, was sie interessierte, zusammenbringen konnte: Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, Musik und Sprache, Rhythmus und Bewegung, Öffentliches und Privates, Politisches und Poetisches, Trauer und Freude. Anregungen dazu hatte sie reichlich in der „Cinémathèque française“ erhalten.

Mit viel Enthusiasmus und wenig Geld dreht sie 1972 ihr Debüt „Laokoon & Söhne“. Nach vielen eindrucksvollen Filmen über vornehmlich fernöstliche Kulturen unternimmt Ulrike Ottinger in „Paris Calligrammes“ eine Zeitreise und richtet ihren ethnografischen Blick auf das Paris der 1960er-Jahre, einer Zeit des Umbruchs, auch für sie selbst. Mit Neugier und wachem Geist erkundete sie die Stadt bei Tag und bei Nacht, in den Arbeitervierteln ebenso wie in den Bibliotheken und Museen.

Es gelingt ihr als ältere Frau, sich durch außergewöhnliche Archivstücke und ihre detailreichen Erinnerungen in die Perspektive der entdeckungsfreudigen jungen Künstlerin zurückzuversetzen. Der Film vermittelt die thematische und formale Bandbreite dieser außergewöhnlichen Künstlerin und gibt Auskunft darüber, welche Begegnungen und Entdeckungen in Paris sie besonders geprägt haben. „Paris Calligrammes“ ist auf der Berlinale 2020 uraufgeführt worden, wo die Filmemacherin mit der „Berlinale Kamera“ für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Ulrike Ottinger ist für ihre Filme und Kunstwerke vielfach ausgezeichnet worden. Am 15. August 2021 wurde ihr der Hans-Thoma-Preis, der Kunstpreis des Landes Baden-Württemberg, verliehen. Redaktionshinweis: 3sat zeigt den Dokumentarfilm „Paris Calligrammes“ zum 80. Geburtstag der Filmemacherin und Fotografin Ulrike Ottinger am 6. Juni. Aus demselben Anlass folgt um 1:35 Uhr der erste Teil ihres dreiteiligen Filmprojekts „Chamissos Schatten“ über Alaska und die Aleuten. (Text: 3sat)

Aufgrund der Corona-Pandemie wurde der Kinostart vom 05.03.2020 auf den 11.06.2020 verschoben. (Text: JN)

Deutsche TV-Premiere14.06.20213satDeutscher Kinostart11.06.2020

Originalsprache: Französisch

DVD & Blu-ray

Streaming & Mediatheken

Sendetermine

Mo 13.06.2022
22:26–00:35
22:26–
Mo 14.06.2021
22:25–00:35
22:25–

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