Annette Hess („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“): „Kein dogmatisches Schulfernsehen“

Die Autorin im Interview über die Serienadaption und Frauen im Filmbusiness

Rosanna Großmann – 19.02.2021, 17:00 Uhr

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Die Schicksale dieser Berliner Clique bewegen das ganze Land. – Bild: Constantin Television Mike Kraus
Die Schicksale dieser Berliner Clique bewegen das ganze Land.

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ startet heute (19. Februar) bei Amazon Prime Video. Die achtteilige Serie setzt sich mit dem Stoff um Christiane F. und ihre Freundesgruppe auseinander, die nach einer Interviewreihe mit dem Stern in den 1970er Jahren Berühmtheit erlangten. Es war ein Schock für viele Deutsche, dass mitten im Land Zwölfjährige drogenabhängig sind und für Heroin ihren Körper verkaufen.

Annette Hess ist als Headautorin eines sechsköpfigen Autorenteams (Linda Brieda, Christiane Kalss, Johannes Rothe, Lisa Rüffer und Florian Vey) Verfasserin des Drehbuchs für „WKBZ“. Die 54-Jährige arbeitete nach dem Studium des Szenischen Schreibens als Schriftstellerin und seit über 20 Jahren ausschließlich als Drehbuchautorin. In dieser Rolle zeichnet sie verantwortlich für deutsche Produktionen wie „Weissensee“ und „Ku’damm“. fernsehserien.de-Autorin Rosanna Großmann sprach mit Hess über die Arbeit an der neuen Umsetzung des Themas aus den 1970ern, über Frauen in der Medienbranche und darüber, etwas zu erschaffen, das einen selbst und das Publikum berührt.

fernsehserien.de: Hallo Frau Hess! Seit wann tragen Sie sich mit der Idee, dieses Drehbuch zu schreiben?

Annette Hess: Als ich 13 war, habe ich das Buch zum ersten Mal gelesen, das war ’79. Ich war geflasht von dieser einerseits brutalen und andererseits faszinierenden Geschichte, wollte auch unbedingt Drogen nehmen und gleichzeitig aber auch nicht. Es hat eine starke Ambivalenz in mir ausgelöst: In meiner Clique wurde auch konsumiert, aber ich hatte immer Angst vor zu harten Drogen. Ein Freund von mir ist vor ein paar Jahren an den Langzeitfolgen von Heroin gestorben.

Sie haben also schon seit Jahren einen ernsten, persönlichen Bezug zum Thema.

Annette Hess: Ja. Und dann habe ich den Kinofilm gesehen und war vollkommen entsetzt, weil der so verkürzt ist – da wusste ich ja noch nichts von Drehbuchschreiben und Adaption, und dass das gar nicht anders geht. Ich habe immer mal wieder das Buch gelesen und habe auch die Geschichte von Christiane F. weiterverfolgt, es hat mich interessiert. Und dann habe ich begonnen, historische Serien zu schreiben. Als vor ein paar Jahren dieser große Serienboom begann, war das die Gelegenheit, das Ganze zu erzählen, wie ich es damals auch gelesen habe.

Annette Hess (Mitte oben) und das Autorenteam von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ Constantin Television /​ Amazon Prime Video

Die Gelegenheit, sich mehr Zeit zu nehmen für die Geschichte.

Annette Hess: Absolut. Auch für die Figuren, für die Eltern – der Vater (Sebastian Urzendowsky) kommt gar nicht vor im Kinofilm. Auch der Weg ins „Sound“ (Anm.: Die Disco, die die Hauptfiguren aufsuchen) ist ja eigentlich noch ein langer, im Film gehen sie sofort da rein. Und dann bin ich vor etwa vier Jahren zu Oliver Berben von Constantin gegangen und bei ihm gleich auf offene Ohren gestoßen.

Hatten Sie überlegt, den Stoff zu aktualisieren und in die heutige Zeit zu holen?

Annette Hess: Zu Beginn haben wir das kurz diskutiert. Aber wir mögen alle auch diese nostalgischen Aspekte der Zeit; zum Beispiel, dass die jungen Leute alle kein Handy haben, und wie diese Clique miteinander kommuniziert. Die Wohnung von Axel (Jeremias Meyer) ist ja so ein besonderer Ort, an dem sie sich treffen – das wäre wahrscheinlich heute eine WhatsApp-Gruppe. Sie würden sich gar nicht mehr physisch begegnen. Damals mussten die Freunde sich jedoch immer suchen, mussten die Plätze abklappern, und wenn jemand am vierten Platz auch nicht war, hätte es noch sein können, dass er tot ist. Trotzdem ist es jetzt keine akribisch historische Serie, in der alle Details stimmen. Die Disco sieht zum Beispiel ganz anders aus – das könnte ein Club aus den 90ern sein.

Und die Musik könnte auch heute so laufen.

Annette Hess: Genau! Das war uns eben auch wichtig, dass es keine Serie von historischer Korrektheit ist, sondern eine Interpretation.

Man merkt auch, dass der 70ies-Vibe nicht übermächtig ist. Das nächste Thema hatten Sie eben schon angesprochen: Ist der Stoff eher Abschreckung oder möglicherweise ein gefährliches Vorbild? Oder eine Mischung aus beidem?

Annette Hess: Ich würde eben genau sagen, dass es eine Mischung ist, und das macht auch die Faszination aus – man hat da keine klare Antwort am Ende. Ich möchte, dass man nach dem Sehen der Serie sagt, ich möchte sofort drogenabhängig werden und gleichzeitig auch auf keinen Fall. Dass man also in dieser Ambivalenz gelassen wird: Dazugehören oder eben auch gar nicht. Deshalb haben wir versucht, nicht so dogmatisch Schulfernsehen zu machen nach dem Motto „Guckt mal, wie gefährlich Drogen sind.“

Im „Sound“ legt der Tod höchstpersönlich die Platten auf. Constantin Television Josef Fischnaller

Und Sie haben auch nicht versucht, Dinge selbst stark zu zensieren: Es wird viel Konsum gezeigt, Suizid, Prostitution. Hatten Sie jemals Kontakt zur echten Christiane F.?

Annette Hess: Nein. Sie weiß natürlich, dass diese Serie entstanden ist, und es gab die Idee, dass man sich trifft während der Arbeit daran. Aber sie lebt sehr zurückgezogen, hat nur manchmal mit dem Produzenten telefoniert, der sie informiert hat, wie der Stand ist. Wir hatten aber mit anderen „Sound“-Gängern von damals Kontakt, die ähnliche Schicksale erlebt haben im Freundesumfeld und Christiane auch kannten, aus der Ferne. Das war uns ziemlich wichtig für die Recherche; für dieses Lebensgefühl.

Die weiblichen Hauptfiguren der Serie sind beeindruckend und begeisternd. In letzter Zeit wird ja verstärkt über das Thema Frauenquote gesprochen, und über die Forderung, dass Frauen im Schauspielgeschäft sichtbarer werden und sich auch gegenseitig mehr unterstützen müssen. Sie setzen sich ebenfalls mit diesem Thema auseinander. Nehmen Sie da bereits eine Veränderung wahr?

Annette Hess: Nur in der Hinsicht, dass sehr viel mehr drüber gesprochen wird – es gibt noch keine wirklichen Auswirkungen. Also, was zum Beispiel die Quote von Drehbuchautorinnen angeht: Das ändert sich minimal. Ich glaube, das ist sehr schwerfällig und dauert, bis man da eine Wirkung erkennt. Wir haben einfach auch viel zu lange gepennt! Selbst für mich war das bis vor fünf Jahren noch gar kein richtiges Thema, seltsamerweise.

Man muss es sich erst bewusst machen, quasi aufwachen.

Annette Hess: Ja, und ich habe zwei Töchter, die sind um die 20 und haben jetzt angefangen zu studieren. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie damit konfrontiert sind und sich sehr behaupten müssen. Meine Tochter hat mir zum Beispiel von einer Party neulich erzählt: Da hat ein junger Mann nicht geglaubt, dass es diese Paygap gibt. Sie hat sich mit ihm auseinandersetzen müssen, und da gibt es immer die Gefahr, dass man die Leute nervt. Da sage ich aber inzwischen, „Ja, dann aber ordentlich nerven und gar nicht aufhören!“ Das dauert wohl noch, bis da irgendwas ankommt; man merkt im Gegenteil fast einen Widerstand. Dazu muss man natürlich noch sagen, es gibt nicht nur Mann und Frau, sondern glücklicherweise vieles dazwischen. Die Diskussion darf auch nicht zu schwarz-weiß werden.

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