„Reacher“: Seht her, wie groß er geworden ist – Review

Der Held der Lee-Child-Krimis geht in Serie und setzt eher auf Höhe als auf Tiefe

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 04.02.2022, 13:14 Uhr

Smart und mächtig: Alan Ritchson ist Jack Reacher – Bild: Amazon Prime Video
Smart und mächtig: Alan Ritchson ist Jack Reacher

Als im Sommer 2011 bekannt wurde, dass Tom Cruise fürs Kino in die Rolle des Krimihelden Jack Reacher schlüpfen würde, regte sich Protest unter den Fans der Buchreihe von Lee Child: Der 1,70 Meter große Filmstar sei viel zu klein für den Part des muskelbepackten Zweimeterhünen, der sich bislang durch 26 kultisch verehrte Krimis ermittelte (und prügelte). Und obwohl die beiden „Jack Reacher“-Filme nicht übel waren und Cruise die mangelnde Körperlänge mit einer erstaunlichen Intensität wettmachte, wurden die Fans nie warm mit ihm. Jetzt werden sie erlöst: Die achtteilige Amazon-Prime-Video-Serie „Reacher“ erfindet den wohnungslos durch die Lande ziehenden Ex-Militärpolizisten ganz neu – als wortkargen Riesen, besetzt mit einer ehemaligen Teenage Mutant Ninja Turtle.

Wie wichtig in dieser ganzen Angelegenheit die schiere Größe des Darstellers tatsächlich ist, wird schon in der Eingangssequenz deutlich: Nach einer schemenhaften Mordszene (Opfer und Täter sind kaum zu sehen), steigt Jack Reacher aus einem Bus und marschiert los über die Felder des US-Bundesstaates Georgia. Aus der Distanz ins Bild gesetzt, überragt sein Kopf sogar die im Hintergrund an ihm vorbeiziehenden Wälder. Es signalisiert: Dieser Reacher ist ein Riese. Das lesende Stammpublikum kann sich also zurücklehnen und abwarten, ob den Machern um Nick Santora („Scorpion“, „Punisher – War Zone“) noch was anderes eingefallen ist als diese Anpassung im Längenmaß.

Der Wirbel um die Körpergröße ist allerdings mehr als nur ein Spleen. Wer mal einen der Reacher-Romane oder -Stories aus der Feder des britisch-US-amerikanischen Autors Lee Child gelesen hat, weiß, wie zentral die brütende Massigkeit des Protagonisten für die generelle Stimmung dieser kunstvoll minimalistisch geschriebenen Pulp Fiction ist. Reacher, der früher Soldat war und dann Ermittler in Militärdiensten, der ebenso draufschlagen kann wie kühn kombinieren, der seit Jahren als hobo von Ort zu Ort zieht, um überall dort Halt zu machen, wo es Ungerechtigkeiten ins Lot zu bringen gibt: Er ist kein Mann der großen Worte, sondern einer, der durch seine mächtige Präsenz Wirkung erzielt und Bedrohlichkeit allein schon durch seine gefährliche Ruhe ausstrahlt, die die ihm innewohnende Kraft allerdings nur so lange deckelt, bis sie nötig wird und sich explosionsartig entlädt.

Der Ex-Soldat macht auf seiner Odyssee im Südstaatenstädtchen Margrave Halt. Amazon Prime Video

Santora und der (mitproduzierende) Child haben für diese Figur nun, scheint’s, einen idealen Darsteller gefunden: Alan Ritchson, 37, ist tatsächlich ein Riese, ein Muskelpaket, ein schneller Brüter, der in den nicht wenigen Actionszenen eine exzellente Figur macht und in den ruhigeren Momenten durchscheinen lassen kann, dass sich mehr hinter seiner Person verbirgt als die schlagkräftigen Reiz-Reaktions-Schemata eines Jahrmarktschlägers. Ritchson, zu dessen bekanntesten bisherigen Jobs seine Motion-Capture-Vorlage für den rüpeligen Raphael in den (neueren) „Teenage Mutant Ninja Turtles“-Filmen zählt, kann eine gewisse Hölzernheit allerdings nicht verhehlen. Egal ob er gerade Leute austrickst, mit einer schönen Frau im Bett liegt, ob er sich kurz vor oder nach der nächsten Prügelei befindet oder sich in spitzfindige Ermittlungsgespräche verstrickt, sein schauspielerischer Modus scheint immer mehr oder weniger derselbe zu sein. Für eine Serie, die mutmaßlich beabsichtigt, Staffel um Staffel einen anderen Reacher-Roman umzusetzen, könnte sich das als Hypothek erweisen. Aber wer weiß? Vielleicht kommen die großen Ritchson-Momente ja noch.

Diese erste Staffel basiert auf dem Reacher-Debüt „Killing Floor“ (deutsch: „Größenwahn“), der, im Original 1997 erschienen, in der Chronologie aller Reacher-Romane und -Kurzgeschichten allerdings nicht am Anfang steht. Mit dem Entschluss, die Reacher-Story sozusagen nicht ganz am Anfang zu starten, sondern dort, wo die Buchveröffentlichung anfing, geht die Serie trotzdem noch einen entschieden anderen Weg als die beiden Cruise-Filme, die in medias res einsetzten und auf den Folgen 9 und 18 der Reihe basierten.

Die ersten Episoden lassen den Schluss dazu, dass die Serie dem um Falschgeld-Intrigen kreisenden Plot von „Killing Floor“ werkgetreu folgen wird. Reacher erreicht eingangs die fiktive Kleinstadt Margrave in Georgia, die durch einen nostalgisch-orangenen Farbfilter so sommerlich aussieht, dass man den kanadischen Drehort fast vergisst. Ein Blues von Howlin’ Wolf übernimmt die Tonspur (später werden beispielsweise noch Fred McDowell, Cephas & Wiggins und Patsy Cline stimmungsfördernd eingesetzt), während Reacher sich in einem Diner zum Frühstück niederlässt – und prompt verhaftet wird. Ihm wird der in der ersten Serienbildern angedeutete Mord zur Last gelegt.

Chief Inspector Finley (Malcolm Goodwin) ist genervt von Reacher – setzt aber gern auf dessen Kombinationsgabe und physische Überzeugungskraft. Amazon Prime Video

Wer der Getötete ist, darf nicht verraten werden. Dass sich Reacher, dessen Scharfsinnigkeit angesichts seiner baumstammdicken Oberarme gern unterschätzt wird, in Windeseile vom Verdächtigen zum inoffiziellen Mitarbeiter der lokalen Polizei wandelt, hingegen schon. Er bekommt es mit zwei zentralen Bezugspersonen zu tun: Chief Inspector Oscar Finley (Malcolm Goodwin, „iZombie“, „Breakout Kings“) kommt aus der Großstadt Boston und wirkt mit Dreireiher und Malcolm-X-Browline-Brille in diesem Südstaaten-Kaff noch fremder als Reacher selbst; die junge Polizistin Roscoe (Willa Fitzgerald, „Little Women“) ist ganz schön taff, wird aber trotzdem vor allem als love interest der Hauptfigur in Stellung gebracht, schon allein, weil es an weiteren Frauenfiguren mangelt. Eine erste gemeinsame Nacht in einem Motelzimmer bleibt zunächst ganz keusch.

Als der schmächtige Bankier Hubble (Marc Bendavid, „Dark Matter“) plötzlich ein unglaubwürdiges Geständnis ablegt, geht Reacher mit ihm in den Knast, wird dort zu seinem Beschützer und kommt, alsbald wieder entlassen, allmählich einem Komplott auf die Spur. Währenddessen tauchen immer mehr Leichen auf, wobei Santora und seine Regisseure keineswegs zimperlich vorgehen. Thomas Vincent choreografiert in der Pilotepisode ein paar amtliche Schlägereien, Sam Hill („CSI: Miami“) lässt in der zweiten Episode am Objekt demonstrieren, wie ein korpulenter toter Mann aussieht, dem seine Hoden fehlen, weil sie sich in seinem Magen befinden. Autsch. Dass der zuständige Pathologe von Harvey Guillen gespielt wird, dürfte Fans der Serie „What We Do in the Shadows“ freuen. Tatsächlich ist er hier der einzig schrullige Charakter im Aufgebot.

Wie Reacher dann allmählich den Nebel lichtet rund um den selbstgefälligen Bürgermeister der Stadt (Bruce McGill aus „Rizzoli & Isles“), die schöne Frau des Bankiers (Kristin Kreuk aus „Smallville“ – in dieser Serie hatte Hauptdarsteller Ritchson übrigens seinen ersten nennenswerten Auftritt: als Aquaman), einen steinreichen und korrupten Industriellen (Currie Graham aus „Susan“), der sich als Gönner aufspielt, und dessen dubiose Verwandtschaft (Newcomer Charlie Webster als troublemaker), das verspricht in den ersten beiden Stunden auf relativ gängige, aber allemal kompetent umgesetzte Krimiware hinauszulaufen. Das Südstaaten-Setting lässt momentweise Erinnerungen an die unterschätzte dritte „True Detective“-Staffel oder auch an „Ozark“ wach werden, doch an deren Eigensinnigkeit reicht „Reacher“ noch nicht heran.

Polizistin Roscoe (Willa Fitzgerald) ist derzeit noch die einzige Frau in Reachers Nähe. Amazon Prime Video

Erfreulich ist die Sorgfalt, mit der Santora in die Adaption des ikonisch-knappen Schreibstils von Lee Child investiert. Dem in den Büchern ständig vorkommenden Satz „Reacher sagte nichts“ entspricht das konsequente Schweigen der Filmfigur in den ersten sechseinhalb Minuten. Einem übergriffigen Typen flößt er allein durch seine turmartige Präsenz Ehrfurcht ein, auch seine Verhaftung lässt er wortlos stoisch über sich ergehen. Als er dann erstmals spricht, ist man fast enttäuscht, weil Ritchsons Stimme so, nun ja, normal klingt. Wenn er dann plötzlich genialische Ermittlungsschlüsse zieht (der Spitzname des wohnsitzlosen Reacher lautet in den Büchern nicht umsonst „Sherlock Homeless“), kommt das sogar noch unerwarteter. Reachers Gedankengänge werden in den (mal in erster, mal dritter Person erzählten) Krimis ausführlich hergeleitet, in der Serie hängen sie einzig an Ritchsons Schauspiel, mit noch nicht durchgängig überzeugendem Erfolg. In den Dialogen zwischen ihm und Goodwin entwickeln sich aber bereits gute Odd-Couple-Vibes.

Dass Santora und Child durchaus mehr im Sinn haben als einen achtstündigen Krimi mit Bizeps-Trizeps-Beilage, ist etwa an den Flashbacks ins Jahr 1998 abzulesen, die pro Folge mindestens einmal eingestreut werden – meist zoomt dann die Kamera insistierend an Ritchsons Gesicht heran. Anhand von einschneidenden Jugenderlebnissen (Maxwell Jenkins aus „Lost in Space“ spielt den 15-jährigen Reacher) soll auf diese Art wohl eine Art Origin Story herbeipsychologisiert werden. Ob das final aufgeht, bleibt abzuwarten.

Fraglos aber geht „Reacher“ als solides Krimi-Entertainment durch. Vor allem im Segment der härteren „Männerserien“ (von denen Prime Video mit „Tom Clancy’s Jack Ryan“ ja schon eine im Angebot hat) dürfte damit gut zu punkten sein. Die Actionszenen sind ordentlich geraten, der Soundtrack macht Freude, und wer seine Erwartungen nicht in „Mare of Easttown“-Höhen hinaufschraubt, kann die Folgen „weglesen“ wie einen guten Krimi am Strand. Für die Langstrecke, also mehrere Staffeln, erscheint das Alleinstellungsmerkmal mit dem Muskelriesen-Protagonisten hingegen noch etwas dünn. Man muss sicher nicht den kleinen Mr. Cruise zurückholen, aber ein bisschen mehr Doppelbödigkeit wäre auf Dauer schon wünschenswert.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Reacher“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die komplette, achtteilige Auftaktstaffel von „Reacher“ ist seit dem 4. Februar 2022 bei Prime Video verfügbar.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am via tvforen.de

    Nix Weltbewegendes, eher leichte Kost, aber dennoch, ich fand es unterhaltsam und freue mich auf weitere Staffeln.
    • am via tvforen.de

      Ja. Das ist Reacher.
      Und die zweite Staffel ist bereits bestellt.
      Es zeigt sich also, dass man die richtige Wahl getroffen hat, Alan Ritchson in dieser Rolle zu besetzen.
      Auch die Nähe zu den Büchern passt.
      So kann es weitergehen.

      Ich musste schon leicht schmunzeln,
      Achtung: SPOILER ZUR LETZTEN EPISODE:
      als Lee Child selber seinen Romanhelden angerempelt hat...
      • am

        Ist es endlich soweit. Ich werde am Wochenende mal reinschauen.
        • am via tvforen.de

          Ahh, seit heute verfügbar. Ich bin ja echt mal gespannt, der Trailer sah schon sehr gut aus und die Handlung ist also dicht am Roman.
          Irgendwie freue ich mich drauf :-)

          Snake
          • am via tvforen.de

            Der Typ ist schon einmal klasse! Tom Cruise war wirklich zu klein für die Rolle!
          • am via tvforen.de

            Ja, Cruise war zu klein, aber hat echt alles gegeben und ich fand ihn sogar überzeugend als Reacher.
            Aber ich hab jetzt 2 Folgen gesehen und will gleich weitergucken, Alan Ritchson ist vielleicht ein Tier! :-)
            DAS ist echt Jack Reacher. Wirklich sehr geil, der trockene Humor und Reachers Ermittlerfähigkeite kommen gut raus.
            Allerdings bezweifle ich ernsthaft die 12er-Freigabe bei Amazon :-)
            Eine an die Wand genagelte nackte Männerleiche KANN nicht mehr ab 12 Jahren durchgehen.
            Sorry für den Spoiler.

            Snake
        • (geb. 1994) am

          Bin schon gespannt auf Reacher.
          Der Darsteller ist sehr gut mur gefiehl er vorallem als Hank in Titans!
          Wünsche ihm, dass er eine 2. Season bekommt!


          Werd heute mal reinschauen!

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