Das deutsche Fernsehjahr 2022 im Rückblick: Schlesinger-Skandal, Retrowelle, Streaming Wars

Das waren die wichtigsten Trends und Ereignisse des TV-Jahres

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 25.12.2022, 09:00 Uhr

Das deutsche Fernsehjahr 2022 im Rückblick – Bild: rbb/Thomas Ernst/Sat.1/Thomas Leidig/RTL/Stefan Gregorowius/BILD/WeltN24 GmbH
Das deutsche Fernsehjahr 2022 im Rückblick

2022 ist fast Geschichte – und auch in diesem Jahr wollen wir an unseren Traditionen festhalten. So gibt es in den kommenden Tagen wie gewohnt einen mehrteiligen Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse und Themen in der TV-Welt des vergangenen Jahres. Los geht es mit einem Blick zurück auf das deutsche Fernsehjahr 2022. Welche Trends haben die Fernsehlandschaft geprägt und was hat für Diskussionsstoff gesorgt?

Von privaten Geschäftsessen und Massagesitzen – Der Skandal um Patricia Schlesinger

Ex-rbb-Intendantin Patricia Schlesinger rbb/​Thomas Ernst

Das wohl folgenreichste Medienthema des Jahres war der Skandal um die ehemalige ARD-Vorsitzende und rbb-Intendantin Patricia Schlesinger. Der Branchendienst Business Insider brachte den Stein ins Rollen und berichtete über ein System aus gegenseitigen Gefälligkeiten mit Compliance-Verstößen und fragwürdigen Beraterverträgen. Darüber hinaus soll Schlesinger mehrfach Gäste für private Abendessen in ihrer Wohnung empfangen und die Kosten als Geschäftsessen über den rbb abgerechnet haben.

Davon abgesehen speisten sich die Vorwürfe auch aus dem Verdacht auf Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme bei der Vergabe von Beraterverträgen für das millionenschwere Bauprojekt eines digitalen Medienhauses, einem unverhältnismäßig teuren Dienstwagen mit Massagesitzen, der Erhöhung ihres Intendantinnengehalts um 16 Prozent auf 303.000 Euro und einem intransparenten Bonus-System für Führungskräfte, das der Sender bis dahin unter Verschluss hält. Zudem sorgte die Renovierung der Chefetage mit teuren Möbeln für 1,4 Millionen Euro für Unmut.

Die Konsequenzen folgten schrittweise. Patricia Schlesinger trat zunächst als ARD-Vorsitzende zurück, wenig später legte sie auch ihr Amt als rbb-Intendantin nieder. Meine Verantwortung gilt dem rbb und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aktuell steht nicht mehr die journalistische und publizistische Leistung des Senders im Vordergrund, sondern es geht nur um mögliche und angebliche Verfehlungen der Intendantin. Das bedauere ich sehr und ich entschuldige mich bei den Beschäftigten des rbb für diese Entwicklung. Der Rückzug ist für mich eine logische Konsequenz aus meinem Versprechen, immer und zuerst für die Belange des rbb einzutreten, sagte Schlesinger. Gleichzeitig haben persönliche Anwürfe und Diffamierungen ein Ausmaß angenommen, das es mir auch persönlich unmöglich macht, das Amt weiter auszuüben. Ich hoffe, dass ich mit diesem Schritt die anstehende Aufklärung der Vorwürfe erleichtere. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht unter hohem Rechtfertigungsdruck, der rbb beweist linear und non-linear jeden Tag, warum er für die Gesellschaft unverzichtbar ist. Dieser Aufgabe muss sich der rbb mit aller Kraft widmen können. Dem dürfen Vorwürfe gegen mich nicht im Wege stehen.

Das Ende von Schlesinger

Patricia Schlesinger rbb/​Thomas Ernst

Damit war es aber längst nicht getan: Nach den zahlreichen Vorwürfen und Ermittlungen gegen Schlesinger berief der rbb-Rundfunkrat am 15. August 2022 eine Sondersitzung ein und beschloss die sofortige Abberufung Schlesingers. Sie selbst nahm an der Sitzung teil, wies viele der gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück, bat jedoch auch bei der Belegschaft und dem Gremium um Entschuldigung. Ich habe manches übersehen, auch und gerade den Unmut der Mitarbeitenden. Das tut mir unendlich leid – professionell wie menschlich, wurde Schlesinger zitiert.

Eine Woche später wurde dann Schlesingers Dienstvertrag außerordentlich fristlos gekündigt. Ansprüche auf die Zahlung von nachvertraglichem Ruhegeld sowie Hinterbliebenenversorgung wurden damit widerrufen. Ausdrücklich möchte ich klarstellen, dass eine Abfindung für Frau Schlesinger im Zusammenhang mit der vorzeitigen Beendigung ihres Dienstverhältnisses auf der Grundlage der vorliegenden Fakten nicht in Betracht kommt, teilte Dorette König als amtierende Verwaltungsratsvorsitzende mit. Wäre dies nicht so entschieden worden, wäre Schlesingers Dienstverhältnis trotz ihres Rücktritts noch bis Ende Februar 2023 weitergelaufen und sie hätte bis dahin noch die vollen Bezüge erhalten – was natürlich für zusätzliche Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesorgt hätte, der durch die Schlesinger-Affäre ohnehin bei vielen Zuschauern weiter in Verruf geraten ist.

Volker Wieprecht moderierte „rbb24 spezial“ rbb/​Thomas Ernst

Das Amt als ARD-Vorsitzender übernahm bis Ende 2022 der WDR und damit WDR-Intendant Tom Buhrow. Der hatte vor Schlesinger das Amt inne und war während Schlesingers Amtszeit ihr Stellvertreter. Der rbb-Verwaltungsrat teilte mit, ein Whistleblower-System zur Aufarbeitung der Vorwürfe gegen Schlesinger einzurichten. Zudem beschäftigten sich eine externe Anwaltskanzlei und der brandenburgische Landtag mit den Anschuldigungen. Der rbb verhielt sich als Sender sehr selbstkritisch und ging mit der Aufarbeitung des Skandals äußerst transparent um. Volker Wieprecht moderierte mehrere Sondersendungen, die über den aktuellen Stand der Ermittlungen informierten. Auch das NDR-Medienmagazin „Zapp“ beschäftigte sich mit dem Skandal und der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass fragwürdige Beraterverträge, dienstlich abgerechnete Abendessen in der Privatwohnung und eine luxuriöse Büro-Ausstattung offenbar weder im rbb selbst noch in den Aufsichtsgremien auffielen.

Neuanfang beim rbb?

Dr. Katrin Vernau, seit September 2022 Interims-Intendantin des rbb rbb/​Thomas Ernst

Der rbb-Medienexperte Jörg Wagner sieht in dem Fall „die stärkste Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ der letzten 30 Jahre. Schlesingers Nachfolgerin Dr. Katrin Vernau ist als Interims-Intendantin im Amt und hat eine umfassende Überprüfung und strategische Neuausrichtung des rbb-Programmangebots aus Nutzersicht angekündigt. Der rbb muss bis Ende 2024 Rücklagen in Höhe von 41 Millionen Euro bilden. Dies ist notwendig, da die frühere Geschäftsführung unter Schlesinger Mehrerträge nicht, wie von der KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs) erwartet, zurücklegte, sondern in den laufenden Haushalt einfließen ließ. Um dies rückgängig zu machen, ist der rbb gezwungen, bis Ende 2024 rund 41 Millionen Euro aus der bisherigen Planung zu nehmen: ein Drittel davon 2023, zwei Drittel im darauffolgenden Jahr.

Vernau schreckte nicht vor deutlichen Worten zurück. Es dürfe keine Denkverbote geben: Ist es sinnvoll, 7 Tage die Woche 24 h ein eigenes Drittes TV-Programm mit einem Marktanteil von 5,5 % zu produzieren, wenn die meisten zwischen 18 und 20 Uhr einschalten, um regionale Berichterstattung zu sehen? Wir müssen unsere Nutzer besser verstehen und für alle relevante, attraktive Formate und Inhalte anbieten. [ …] Wir können nicht weiter 70 % unseres Etats investieren, um damit 40 % der Bevölkerung zu erreichen – diejenigen über 55 Jahre.

Vorwürfe politischer Einflussnahme beim NDR

Durch den Schlesinger-Skandal wurde eine regelrechte Welle in Gang gesetzt und auch der NDR sah sich plötzlich schwerer Kritik ausgesetzt. Die Rede war von möglicher politischer Einflussnahme und einem offenbar zerrütteten Arbeitsklima im NDR Landesfunkhaus Schleswig-Holstein. Es war erneut der Business Insider, der einen Bericht veröffentlichte, in dem NDR-Redakteure von einem politischen Filter und einem Klima der Angst sprachen. Berichterstattung werde teilweise verhindert und kritische Informationen heruntergespielt, lauteten die Vorwürfe.

72 Mitarbeiter des NDR forderten in einem offenen Brief eine Aufklärung der Sachverhalte. Wenig später wurden Norbert Lorentzen, Chefredakteur des NDR-Funkhauses Schleswig-Holstein, und Politikchefin Julia Stein bis auf Weiteres von ihren Aufgaben entbunden. Eine externe Untersuchung der Vorwürfe ergab jedoch, dass es keine Belege für einen politischen Filter im Landesfunkhaus Schleswig-Holstein gebe, wohl aber mangelnde Kommunikation und fehlendes Vertrauen. Als Konsequenz sorgte NDR-Landesfunkhausdirektor Volker Thormählen jedoch dafür, dass Lorentzen und Stein aufgrund des verloren gegangenen Vertrauens nicht mehr auf ihre Posten zurückkehrten. Gleichzeitig kündigte er allerdings an, sich mit Unterstützung der Geschäftsleitung darum zu kümmern, dass beide neue Aufgaben außerhalb des Landesfunkhauses Schleswig-Holstein erhalten werden.

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