Prosit, „Pippi Langstrumpf“

Vor 40 Jahren erscheint der Kult-Rotschopf erstmals im deutschen Fernsehen – von Boris Klemkow

Boris Klemkow – 31.10.2011, 12:24 Uhr

Pippi und Kleiner Onkel – ein Traumpaar
Aus der Vielzahl der ungewöhnlichen Kinderfiguren in Lindgrens Oeuvre sticht Pippi Langstrumpf schon allein aufgrund ihrer äußeren Erscheinung hervor. Neben ihrer auffallenden Haartracht weist sie ihre Kleidung (Schürzenkleid, die namensgebenden Strümpfe und orthopädisch bedenkliches Schuhwerk) als unangepasste Freidenkerin aus. Ihre übermenschliche Kraft, die es ihr beispielsweise erlaubt, ein Pferd samt Reiter ohne sichtbare Anstrengung zu stemmen, und ihr außergewöhnlicher Mut machen sie zudem zur idealen Identifikationsfigur für Kinder. Dieses neunjährige Mädchen muss sich vor nichts und niemandem fürchten. Weil sie keine physikalischen Gesetze gelten lässt, scheint sie auch nicht an sie gebunden. Ein Kiste voller Goldmünzen lässt sie keine materielle Not leiden, denn sie kann sich alles leisten, wonach ihr der Sinn steht. Sie wohnt in ihrem eigenen Haus, der ‚Villa Kunterbunt‘, wo sie weder putzen noch aufräumen muss und lebt in einem regelfreien Raum, ohne Eltern. Die Mutter sei ein Engel, der Vater „Neger-„ (oder wie es in der politisch korrekteren Neufassung heißt „Südsee-„) König. Beide sind demnach abwesend, doch richtig einsam fühlt sie sich eigentlich nie, auch wenn sie manchmal sehnsüchtig in den nächtlichen Sternenhimmel blickt und mit ihrer verstorbenen Mutter Zwiesprache hält. Lediglich an Weihnachten, wenn alle ihre Freunde mit ihren Familien feiern, fühlt sie sich ausgeschlossen – selbstverständlich bleibt sie nicht lange alleine.

Neben ihrem Apfelschimmel Kleiner Onkel und dem Äffchen Herr Nilsson, mit dem sie die ‚Villa Kunterbunt‘, bewohnt, findet Pippi in den Geschwistern Tommy (Pär Sundberg) und Annika (Maria Persson) Freunde, die mit ihr durch dick und dünn gehen. Die Beiden sind von Pippis Unbeschwertheit und Unabhängigkeit fasziniert, versuchen sie aber, wenn ihnen ihre Idee zu tollkühn erscheinen, zu bremsen. In echte Gefahr geraten die drei allerdings nie. Im Vergleich zu der furchtlosen Egozentrikern müssen die wohlerzogenen Geschwister zwangsläufig bieder wirken. Die Erwachsenen sind in der Regel Witzfiguren oder freundliche, aber langweilige Zeitgenossen, deren Geduld und Leidensfähigkeit oft auf ein harte Probe gestellt wird.

Die Landstreicher (Hans Clarin und Paul Esser), die Pippis Gold stehlen wollen, sind harmlose Amateurganoven und landen letztlich mit Pippis Hilfe hinter schwedischen Gardinen. Die beiden trotteligen Polizisten Kling und Klang, die die Halbwaise ins Kinderheim stecken wollen, geben sich nach mehreren gescheiterten Anläufen schließlich geschlagen. Auch die Bemühungen von Fräulein Prüsselius (Margot Trooger), von Pippi „Prutzeliese“ genannt, dem „verwahrlosten Kind“ Erziehung und Manieren angedeihen zu lassen, schlagen fehl. Ein kurzer Schulbesuch bleibt da selbstverständlich ohne Folgen, weil nicht nur die gefürchtete Plutimikation ein Graus ist. Sie sucht viel lieber nach einem geheimnisvollen „Spunk“, spielt verständnislosen Erwachsenen Streiche und treibt allerlei Unfug. Kurzum, Pippi lässt sich nicht bändigen und wird wie Peter Pan wohl nie erwachsen werden.

Mit ihren Freunden Tommy und Annika erlebt Pippi grandiose Abenteuer, nicht nur in der ‚Villa Kunterbunt‘
Nachdem die ersten 13 Serienfolgen im schwedischen Fernsehen liefen, entschied der deutsche Koproduzent die Handlung zu zwei anderthalbstündige Spielfilmen zusammenzufassen und so liefen „Pippi Langstrumpf“ und „Pippi geht von Bord“ hierzulande zuerst im Kino, bevor die Serie dann mit drei Jahren Verspätung schließlich auch in der ARD ausgestrahlt wurde. Wer also bislang nur die Filme kennt, für den hält die Serie einige noch nicht gesehene Szenen und neue Streiche bereit. „Pippi im Taka-Tuka-Land“ und „Pippi außer Rand und Band“, der dritte und vierte Film der Reihe, wurden auf acht weitere TV-Episoden aufgeteilt. Pippi Langstrumpf ist somit ein frühes Beispiel für einen sogenannten amphibischen Film, ähnlich wurde bei Wolfgang Petersens Meisterwerk „Das Boot“ und den Stieg-Larsson-Verfilmungen verfahren. Ein weiterer Unterschied zwischen den Pippi-Filmen und der Serie besteht in der Synchronisation: Während die junge Eva Mattes Inger Nilsson in der TV-Fassung ihre Stimme lieh, war in den Kinofilmen Andrea L’Arronge als Pippi Langstrumpf zu hören. Eva Mattes wiederum fungierte hier als Tommys deutsche Synchronstimme.

In „Pippi im Taka-Tuka-Land“ reisen die drei Freunde nach einer Reihe von gemeinsam erlebten Abenteuern mit dem sogenannten Myskodil, einer flugfähigen Konstruktion von Pippis Bett, in die Südsee, um Kapitän Langstrumpf zur Hilfe zu eilen. Die ländliche Idylle Schwedens wird gegen eine exotischere Kulisse getauscht, natürlich erteilt Pippi den raubeinigen Piraten, die ihren Vater gefangen halten, eine Lektion. Am Ende ist die alte Ordnung – oder besser Unordnung – wiederhergestellt. In „Pippi außer Rand und Band“ verlassen Tommy und Annika abermals ihre Eltern, nachdem sie zum Jäten eines Beetes abkommandiert wurden, um zusammen mit Pippi ein Landstreicherleben zu führen. Die Serienepisoden, die diese Geschichte erzählen, tragen den treffenderen Titel „Pippi auf der Walze“. Bevor ihre erlebnisreiche Reise sie wieder nach Hause führt, baut Pippi ein Auto, mit dem die Kinder tatsächlich fliegen können und lässt damit einmal mehr die Fantasie über die Wahrscheinlichkeit und physikalische Machbarkeit siegen.

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